Marathon
Lokal, das mit
seltsamen Wandmalereien ausgestaltet war. Eine Kellnerin mit einer
langen weißen Schürze bis zum Boden schleppte eine
riesige Tafel durch die engen Reihen. Mit Kreide war die Tageskarte
aufgemalt. Die beiden zwängten sich an der jungen Kellnerin
vorbei. Ein Italiener, der gekonnt den Sommelier spielte, wies
ihnen den letzten freien Tisch zu, nachdem Gassmann ihm seinen
Namen genannt hatte.
»Womit wollen
wir beginnen?«, fragte sie ihn.
»Wie wär's
mit Prosecco?«, fragte er zurück und
bestellte.
Die Kellnerin
servierte am Nebentisch eine herrlich duftende Vorspeise. Der Koch
hatte das Fleisch einer Ente in einem feinen Blätterteigmantel
mit Speck und Gemüse versteckt.
»Kein gutes
Wetter für den Marathon, oder?«, versuchte sie mit
Belanglosigkeiten ein Gespräch zu beginnen. Er nickte nur. Der
Kellner brachte den Prosecco, wünschte in holprigem Deutsch
einen angenehmen Abend.
»Zum
Wohl«, sagte sie.
Was sollen wir noch
miteinander reden?, fragte er sich, während er die perlende
Köstlichkeit herunterkippte. Wozu viele Wörter benutzen,
wenn man doch weiß, woran man ist? Es gab keinen Grund, eines
der unzähligen Gespräche, die sie in der Vergangenheit so
oft geführt hatten, ein weiteres Mal zu wiederholen. Sie
hatten sich nach all den Jahren nicht mehr viel, eigentlich gar
nichts mehr zu sagen. Alles war gesagt, alles geklärt. Er
kannte sie, sie kannte ihn. Die Vorstellungen von einer gemeinsamen
Zukunft waren schon vor Jahren auf einen Minimalkonsens
zusammengeschmolzen, an den keiner mehr rühren wollte. Die
Kellnerin holte ihn aus seinen Gedanken, als sie mit der
Speisetafel an den Tisch stieß.
Die arme Frau, dachte
er. Warum muss sie dieses Ding hier herumschleppen, anstatt ein
paar handliche DIN-A-4-Seiten mit dem Tagesangebot zu verteilen?
Die junge Frau baute sich neben der Tafel auf, um das Italienische
ins Deutsche zu übersetzen. Noch so eine Unart der
italienischen Gastronomie, die etwas auf sich hielt. Warum konnten
die die Namen nicht gleich auf Deutsch auf die Tafel kritzeln? Aber
das gehörte hier zum guten Ton, zu der ganz speziellen Note
des Lokals, weshalb die Gäste immer wieder kamen und nach dem
obligatorischen Espresso eine stattliche Summe hinblätterten.
Ihm hätte die Qualität des Essens gereicht. Seine Frau
war in eine intensive Konversation mit der Kellnerin eingestiegen,
in ein sinnloses Palaver über Pomodori, Piselli und
Pinzimonio. Womit wird das Agnello serviert? Was ist der
Unterschied zwischen Fusilli und Fettucine? Was kostet die Welt? Er
wusste, dass ihr das ungeheuren Spaß machte. Sie wollte immer
an allem interessiert sein oder zumindest so tun. Nur so blieb man
in Bewegung. Und das musste man, um geistig frisch zu bleiben,
damit man genau diese sinnlose Kommunikation bis zur Perfektion
treiben konnte. Das ist meine Frau, dachte er und
lachte.
»Was ist so
komisch?«, fragte sie ihn erstaunt, und die Kellnerin schaute
nicht weniger dämlich drein. »Vielleicht willst du auch
mal was bestellen?«
Er entschied sich,
ohne lange zu überlegen, für die Wachteln an Feldsalat
und den Lammbraten. Sie bestellte dazu einen sardischen Vermentino
für einundzwanzig Euro. Früher hätte er sich eine
Bemerkung über diesen Preis für einen Wein nicht
verkneifen können. Jetzt war er so weit, darüber zu
lächeln. Er bestellte ein Bier. Als die Kellnerin
verschwunden war, machte sie einen neuen Versuch.
»Was ist der
Anlass für dieses schöne Essen? Hab ich irgendwas
verpasst?«
Eine brillante Frage.
Alles hatte sie verpasst. Nichts mitbekommen in den letzten Jahren
und erst recht in den letzten Monaten.
»Ich
denke«, leitete er vorsichtig die sorgfältig geplante
Provokation ein und nippte an seinem Glas mit überteuertem
Mineralwasser, das ihnen die Kellnerin unaufgefordert auf den Tisch
gestellt hatte. »Ich denke, wir sollten uns
trennen.«
Sie reagierte genauso,
wie er es sich vorgestellt hatte: Sie fuhr mit ihrer rechten Hand
durch ihr blond gefärbtes langes Haar, warf den Kopf
zurück und lächelte. Der Mann, der den Sommelier spielte,
kam gerade rechtzeitig mit dem Wein und dem Bier. Sie brauchten
dringend etwas Alkoholisches zum Anstoßen.
»So, so«,
sagte sie. »Du willst dich mal wieder von mir trennen. Warum
diesmal, wenn ich fragen darf?«
Er hatte sich
vorgenommen, dass es diesmal anders laufen sollte. Kein
aufgebrachtes Rumgebrülle, wo er alles auskotzte, was sich in
den letzten Wochen angesammelt hatte, um sich dann
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