Marathon
Code,
den nur bestimmte Leute verstehen«, schlug Gröber
vor.
»Das kann alles
sein«, sagte einer aus der Zahlengruppe. »Die
Größe eines Angelhakens, Maße einer Puppenstube,
der Umfang eines Gerätes, Abstände, Zeitangaben,
Höhenunterschiede …«
»Was spricht
dagegen, es zu versuchen?«, unterbrach
Gröber.
»Was zu
versuchen?«, fragte Remmer zurück. Sie wusste genau, was
ihr Kollege meinte. Sie sollte die Spielregeln des Gegners
akzeptieren.
»Die Zahlen zu
veröffentlichen und dann abzuwarten, ob tatsächlich
jemand anruft.«
»Ein Sadist
stellt uns ein Rätsel, ein Zahlenspiel für die dumme
Polizei…«, murmelte Remmer.
Stahlinger hatte sie
gehört.
»Unser Mann ist
kein Sadist. Er empfindet keine Lust, wenn er tötet. Nichts
deutet darauf hin. Er erledigt einen vorher geplanten Job. Es gibt
kein Ritual.«
»Er malt Zahlen
mit Blut an Wände. Ist das kein Ritual?«, fragte
Gröber ungehalten.
»Normalerweise
tötet ein Sadist, um eine unerfüllte Leidenschaft
auszuleben. Er ist das, was er tut, tausende Male zuvor in seiner
Phantasie durchgegangen. Er stellt sich vor, wie er quält und
tötet und wie es ist, das zu tun«, fuhr Stahlinger fort.
»Irgendwann will die Obsession verwirklicht werden. Um die
Tat vollbringen zu können, ritualisiert er sie. Er vollzieht
sie nach dem Muster, das es bislang nur in seiner kranken
Gedankenwelt gab. Wenn er aus Lust quält, tötet er nicht
einfach so. Er braucht das Ritual. Unser Mann tötet noch nicht
einmal auf die gleiche Weise. Die Stichwunden sind bei allen Opfern
an einer anderen Stelle. Nachdem er zugestochen hat, tut er nichts
weiter. Er wartet, bis die Opfer tot sind. Das Malen der Zahlen hat
nichts mit ihnen zu tun. Es ist ausschließlich für uns
bestimmt.«
»Auch wenn es
kein Ritual gibt«, meinte Remmer, während sie ihren Zopf
löste, um ihre Haare zu ordnen und dann wieder mit einem
Gummiband zusammenzubinden, »so gibt es doch ein Muster: Er
ersticht die Männer, wartet, benutzt ihr Blut und schleppt sie
an einen anderen Ort…«
»… und er
kennt sie. Bei Vosskamp können wir davon ausgehen, dass er ihn
hereingelassen hat. Bei Leuschen lässt er die Frau leben.
Warum hat er sie nicht getötet? Wenn ich mehrere Morde begehen
will, kommt es auf einen mehr oder weniger nicht an, oder? Ihm aber
doch. Es sterben nur ganze bestimmte Leute. Er bestraft
sie.«
»Das tut ein
Sadist auch.«
»Ja, aber seine
Opfer sind in der Regel anonym. Er braucht Namenlose, um sie zu
Objekten degradieren zu können. Das Opfer steht
stellvertretend für eine Gruppe. Das ist in unserem Fall hier
anders: Hier geht es nur um die, die gestorben
sind.«
»Und warum hat
er die drei dann nicht einfach erschossen?«, fragte
Chrischilles.
»Weil er wollte,
dass die drei auf eine ganz bestimmte Art und Weise sterben. Dabei
geht es ihm aber nicht darum, die Opfer zum eigenen Vergnügen
zu quälen. Er will vielmehr, dass sie ihren Tod bewusst
erleben. Dass sie langsam sterben, hat nichts mit einer Obsession
oder Perversion zu tun. Es geht nur um die Opfer.«
»Das finde ich
schon ganz schön pervers«, murmelte
Chrischilles.
»Das ist nicht
pervers, das ist pathologisch.«
»Ist für
mich dasselbe.«
Stahlinger
überhörte die Bemerkung. Bei Remmer wich die Skepsis, die
sie die Psychologin bislang hatte spüren lassen. Den anderen
Polizisten im Raum schien es ähnlich zu gehen.
»Er tötet
sehr bewusst. Das Messer ist die Tatwaffe, weil es ihm
tatsächlich darum geht, dass die Männer verbluten.
Vielleicht ist das Blut ein Symbol für ihn. Es bedeutet etwas,
er verbindet etwas damit. Vielleicht will er seinen Opfern zeigen,
wie sie langsam ihre Lebenskraft verlieren. Vielleicht ist die
Verbindung aber auch viel konkreter. Die Männer verbluten,
weil das, wofür er straft oder rächt, etwas mit viel Blut
zu tun hat. Ein schwerer Unfall, ein Kriegsverbrechen, eine
Schändung, vielleicht ein echtes Sexualdelikt eines Sadisten,
der aus Lust getötet hat. So was kann man Jahre mit sich
herumgetragen haben, bevor ein kleiner Anlass genügt, um alles
wieder bewusst zu machen. Das Erlebte wird bestimmend. Nicht das
Töten ist die Obsession, sondern der Gedanke an ein
verdrängtes Erlebnis, das einen gefangen nimmt und nicht mehr
loslässt.«
»Was kann man
noch über den Mann sagen?«, fragte Remmer.
»Er ist
intelligent und willensstark. Er kann viel riskieren, weil er
offensichtlich nicht viel zu verlieren hat. Der Mörder ist ein
kräftiger Mann, wahrscheinlich
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