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Marathon

Marathon

Titel: Marathon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Frangenberg
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ganz schnell aufhören wollen mit dem Jungsein, der
ständigen Bewegung. Schluss mit den Albernheiten, all den
Kleinigkeiten, die uns Zeit und Nerven gekostet haben. Dann
könnten wir ruhig in einem Lehnstuhl hin und her schaukeln,
oder wir stehen am Rhein und angeln, wechseln das Ufer und sehen
die Dinge und Leute, wie sie wirklich sind. Ganz still, ganz
entspannt, ganz leise. Was halten Sie davon,
Vollidiot?«
    Der Angler verstand
noch nicht mal »Vollidiot« oder er war so clever, so zu
tun, als ob.
    »Was würden
Sie tun, wenn ich jetzt auf dieses Geländer klettern und
schreien würde: Hallo, ich weiß alles. Ich habe alle
Geheimnisse gelüftet. Deshalb sterbe ich jetzt. Was,
Vollidiot? Würden Sie mich springen lassen?«
    Die Angelschnur
spannte sich. Der fremde Mann hatte tatsächlich einen Fisch
gefangen, was Gassmann kurz die Sprache verschlug. Der Mann holte die
Angelschnur ein, drehte ein paar Mal an der Kurbel der Schnur,
ließ wieder ein wenig locker, drehte wieder. Dann
schließlich zappelte ein todgeweihter Fisch über der
Wasseroberfläche. Der Angler zog ihn zu sich heran, packte ihn
mit einem festen Griff, um ihn auf die Rheinuferpromenade zu legen.
Mit einem Schlag wurde der Fisch betäubt. Er pulte den Haken
aus dem Maul und warf den Fisch in den
Eimer.       
    »Nein«,
sagte der Mann.
    Ingo Gassmann schaute
ihn erstaunt an.
    »Was,
nein?«
    »Ich würde
Mann nicht lassen springen. Keiner darf sterben von selber. Ist
Gebot von Gott, verstehen Sie?«
    »So, so, von
Gott.«
    »Natürlich.«
    Der Angler
öffnete eine kleine Plastikkiste, in der Würmer
herumkrochen. Einer wurde auf den Angelhaken
gespießt.
    »Das ist
Quatsch, was Sie sagen.« Gassmann sparte sich den
»Vollidioten«. »Totaler Quatsch. Natürlich
darf jeder sterben, wann er will.«
    »Wenn er nicht
leben, wie er will, warum dann sterben, wie er will?«,
überraschte ihn der Mann mit der Angel. Mehr sagte er nicht,
er starrte auf die ruhigen Wellen des Rheins. Sein Nachbar rief
etwas in einer fremden Sprache herüber, worauf der Mann kurz
nickte. Gassmann atmete tief durch und trabte, ohne sich zu
verabschieden, Richtung Hohenzollernbrücke.
    Gar nicht so
blöd, der Vollidiot, dachte er, während er die Stufen des
Brückenaufgangs hochrannte. Weil keiner die Kraft und die
Courage aufbrachte, so zu leben, wie er wollte, warum sollte er
dann sterben dürfen, wann und wie er wollte?
    Oben auf der
Brücke brauste der Verkehr, eine Straßenbahn schepperte
viel zu laut an ihm vorbei. Was würde das für ein
Gefühl sein, hier morgen dem Ziel entgegenzulaufen? Die
letzten Meter vor dem großen Triumph, dem Beweis absoluter
Willensstärke. Würde dann die Jugend hinter ihm liegen,
würde er mit all dem Profanen abgeschlossen haben, bereit
für die letzte Gewissheit, dass alles Leben nur der Anlauf
für den Tod sein würde? Er konnte nicht mehr weglaufen. Um
ihn herum starben Menschen, zollten der Lächerlichkeit Tribut,
mit der sie sich in ihrer Vergangenheit umgeben hatten. Warum
sollte es ihm anders gehen?

34
    Den ganzen Tag
über hatte er immer wieder zur vollen Stunde das Radio
angemacht, um die Nachrichten zu hören. Alle Sender hatte er
durchprobiert und immer wieder den Videotext durchgeblättert.
Dauerverdummung. In den Morgenzeitungen stand zwar geschrieben,
dass nun auch ein Merheimer Familienvater Opfer des Messerstechers
geworden war, doch Informationen über den Fund der Leiche
hatte niemand.
    »Das kann doch
nicht sein«, fluchte er. »Warum finden sie ihn
nicht?«
    Er wusste, dass ein
paar Zeitungsfotografen den Polizeifunk abhörten, um immer
schneller am Ort des Geschehens zu sein, als die Polizei erlaubte.
Deshalb hatte er in den Lokalredaktionen angerufen und vorsichtig
nachgefragt, ob es denn keinerlei Hinweise auf den Leichenfund gab.
Doch auch dort erfuhr er nur, dass keiner etwas wusste.
Höllerbach war offensichtlich noch nicht gefunden worden. Es
war halb sechs am Abend und längst dunkel. Da ihn im Laufe des
Tages keiner gefunden hatte, würde der Tote nun bis Montag
unentdeckt in der kleinen Holzhütte liegen. Schimmelpilz. Er
lief wie ein Tiger durch den langen Flur.
    Sollte er anrufen?
Sollte er das kleine Rätsel, das er sich für die Polizei
ausgedacht hatte, auflösen? Oder ihr mit einem kleinen Hinweis
auf die Bedeutung der Zahlen helfen? Hatten sie das verdient? Oder
war die Vorstellung nicht viel amüsanter, dass sie die
Bedeutung der Zahlen begriffen, wenn alles vorbei war? Einmal
hatten sie schon

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