Marco Polo der Besessene 1
stirnrunzelnd diese Seiten betrachtete.
»Ja, bei Gott«, sagte mein Onkel, kratzte sich und hustete. »Es gibt hier wahrhaftig unendlich viel mehr Land, als aus diesen Blättern hervorzugehen scheint -zwischen hier und dem östlichen Ozean.«
»Nun«, sagte mein Vater, »dann müssen wir beim Zeichnen unserer eigenen Karten um so gründlicher und beharrlicher vorgehen.«
Im allgemeinen einigten sich er und Onkel Mafio ohne langes Hin und Her darüber, wo Berge, Wasserzüge, Städte und Wüsten eingetragen werden sollten, denn das waren Dinge, die wir sehen und größenmäßig auch einordnen konnten. Worüber jedoch nachgedacht und lange geredet werden mußte -und was bisweilen doch nur auf reinen Mutmaßungen beruhte -, war das Markieren von unsichtbaren Dingen, das heißt, der Grenzen zwischen den einzelnen Völkerstämmen. Das war unglaublich schwierig, und das nur zum Teil deswegen, weil das Mongolen-Khanat so viele einst unabhängige Staaten und Völker, ja ganze Rassen von Menschen in sich vereint hatte, daß bestimmte Fragen von niemand gestellt wurden -nur eben von einem Kartographen; die Frage etwa, wo sie gesessen hatten, wohin sie zogen und wo die Grenze zwischen dem einen und dem anderen Volk verlaufen war. Das hätte sich selbst dann als schwierig erwiesen, wenn ein Angehöriger eines jeden Volkes uns begleitet hätte, um gemeinsam mit uns die Grenzen seines Landes abzuschreiten. Freilich muß ich einräumen, daß ein solches Unterfangen selbst auf unserer italienischen Halbinsel alles andere als leicht gewesen wäre, wo keine zwei Stadtstaaten sich darauf einigen können, wo der Besitz des einen aufhört und der des anderen beginnt und wer entsprechend wo zu befehlen hat. In Innerasien jedoch war die Ausbreitung der einzelnen Völker, ihre Grenzen, ja, sogar die Frage nach ihrem Namen, fließend gewesen, längst ehe derlei Probleme durch die Mongolen aufgeworfen worden waren.
Ich möchte das verdeutlichen. Irgendwann und irgendwo haben wir auf unserer langen Reise von Mashhad nach Balkh jene unsichtbare Linie überschritten, die in Alexanders Zeiten die Grenze zwischen den beiden Reichen der Arier und der Baktrier gewesen war. Jetzt stellt sie -oder stellte zumindest bis zum Eintreffen der Mongolen -die Grenze zwischen dem Großpersischen und dem Großindischen Reich dar. Aber tun wir einmal so, als gäbe es das Mongolen-Khanat nicht, und versuchen wir, einmal deutlich zu machen, welche Verwirrung diese ungenaue Grenze im Laufe der Geschichte verursacht hat.
Indien mag einst in seiner ganzen Ausdehnung von den kleinen dunkelhäutigen Menschen bewohnt gewesen sein, die wir heute als Inder kennen. Doch vor langer, langer Zeit drängten die Einfälle von zupackenderen und kühneren Völkern diese ursprünglichen Inder auf immer kleinerem Raum zusammen, so daß Hindu-Indien heutzutage weit im Süden und Osten von hier liegt. Das nördliche Indien -India Aryana -wird heute von den Nachkommen jener Eindringlinge von damals bewohnt, die nicht der Hindu-Religion anhangen, sondern dem Islam. Auch noch der kleinste Stamm nennt sich Volk, gibt sich einen eigenen Namen und behauptet, sein Volk lebe in fes tstehenden Grenzen, die kartographisch aufzunehmen seien. Die meisten Völkernamen hierzulande enden auf die Silbe -stan, die soviel bedeutet wie ›Land vom -so daß Khalijstan ›Land der Khalji‹ heißt und es entsprechend Pakhtuni-stan und Kohistan und Afghanistan und Nuristan und was weiß ich noch wie viele andere -stans gibt.
In alter Zeit muß es irgendwo hier gewesen sein -entweder in der damaligen India Aryana oder im damaligen Baktrien -, daß Alexander der Große auf seinem Eroberungszug in den Osten die Prinzessin Roxana kennenlernte, sich in sie verliebte und sie zur Frau nahm. Kein Mensch kann genau sagen, wo das geschah oder zur ›Königsfamilie‹ eines welchen Stammes Roxana gehörte. Doch heutzutage behauptet jeder hier ansässige Stamm - Pakhtuner, Khalji, Afghanen, Kirgisen und alle anderen -, zunächst einmal jener königlichen Familie zu entstammen, die Roxana hervorgebracht hat, und auch noch Nachkommen jener Mazedonier zu sein, die Alexanders Armee bildeten. Vielleicht ist diese Behauptung oft gar nicht mal so unbegründet. Wiewohl die überwiegende Mehrzahl der Menschen, die man in Balkh und Umgebung sieht, dunkles Haar und Haut und Augen haben, wie Roxana sie auch gehabt haben soll, begegnet man bisweilen Menschen mit heller Hautfarbe, blauen oder grauen Augen und rötlichem,
Weitere Kostenlose Bücher