Marco Polo der Besessene 1
Lebensunterhalt zu verdienen, und zog es vor, den größten Teil seiner Energie und seines Strebens seinen privaten Studien zu widmen. Wie jeder andere medego träumte er davon, etwas Neues und medizinisch Wunderbares zu entdecken, die Welt damit zu erstaunen und seinen Namen für immer neben den Göttern der Heilkunst leuchten zu lassen wie Asklepios, Hippokrates und Ibn Sina, den das Abendland unter dem Namen Avicenna kennt. Gleichwohl widmen sich die meisten Ärzte meiner Bekanntschaft -zumindest in Venedig -nur solchen Studien, wie die heilige Mutter, die Kirche, sie gutheißt oder zumindest duldet, das heißt Studien, die geeignet sind, neue Wege zu finden, um die Dämonen der Krankheit zu vertreiben oder zu vernichten. Mimdads Studien und Experimente, so erfuhr ich, bewegten sich weniger im Bereich der Heilkunst als vielmehr in dem des Hermes Trismegistus, dessen Künste an Zauberei grenzten.
Da die hermetischen Künste ursprünglich und sehr lange hindurch von Heiden wie Griechen, Arabern und Alexandrinern ausgeübt wurden, ist es den Christen selbstverständlich verboten, in sie einzutauchen. Gleichwohl hat jeder Christ schon von ihnen gehört. Ich selbst zum Beispiel wußte, daß die Hermetiker des Altertums wie der neuen Zeit -die Adepten, wie sie sich gern nennen - fast immer und alle miteinander danach getrachtet haben, ein oder zwei der ganz großen Geheimnisse zu enthüllen: das Elixier der Unsterblichkeit und den Stein der Weisen zu finden, durch dessen Berührung gewöhnliche Metalle in Gold verwandelt werden. Deshalb war ich nicht wenig erstaunt, als Hakim Mimdad nur Hohn und Spott für diese beiden Ziele übrig hatte, die er »unrealistische Aussichten«
nannte. Gewiß, auch er sei ein Adept der uralten Geheimwissenschaft, gab er zu. Er nannte sie al-kimia und behauptete, Allah habe sie als erster den Propheten Musa und Haroun offenbart, womit er Moses und Aaron meinte, von denen sie über die Jahre auf andere berühmte Experimentatoren wie den großen arabischen Weisen Jabir übergegangen seien. Desgleichen gab Mimdad zu, jawohl, wie jeder andere Adept auch, jage er einem äußerst flüchtigen Wild nach, allerdings einem weniger grandiosen denn Unsterblichkeit oder unermeßlichen Reichtums. Was er zu entdecken -oder vielmehr zu Wiederentdecken -hoffte, war das, was er den »Liebestrank von Majnun und Laila« nannte. Eines Tages, als der Winter im Hochland anfing, seinen Griff zu lockern, und die karwan-Führer begannen, nach dem Himmel aufzuschauen, um sich schlüssig zu werden, wann sie es wagen konnten, vom Dach der Welt hinabzusteigen, erzählte Mimdad mir die Geschichte dieses bemerkenswerten Liebestranks.
»Majnun war ein Dichter und Laila eine Dichterin, und sie lebten vor langer, langer Zeit in einem fernen Land. Kein Mensch weiß wo oder wann. Bis auf die Gedichte, die sie überlebt haben, weiß man nur dieses von Majnun und Laila: Sie besaßen die Fähigkeit, ihre Gestalt nach Belieben zu ändern. Sie konnten jünger oder älter werden, schöner oder häßlicher, und sich auch aussuchen, welchen Geschlechts sie sein wollten. Oder aber sie konnten jemand ganz anderes werden, riesige Vögel Rock zum Beispiel oder gewaltige Löwen und schreckliche mardkhora. Oder, in verspielterer Stimmung, etwa ein sanftes Reh, ein edles Pferd oder ein bezaubernder Schmetterling...«
»Eine nützliche Gabe«, sagte ich. »Dann mußte ihre Dichtung imstande sein, diese fremden Lebensweisen genauer wiederzugeben, als jeder andre Dichter es zuvor getan hatte.«
»Ohne Zweifel«, meinte Mimdad. »Aber sie waren nie bemüht, Kapital aus ihrer besonderen Gabe zu schlagen oder dadurch berühmt zu werden. Sie nutzten sie nur zum Spiel, und ihr Lieblingsspiel war die Liebe. Der körperliche Akt des Liebens.«
»Dio me varda! Es hat ihnen Spaß gemacht, Pferde und so zu lieben? Ach, dann muß unser Sklave Dichterblut in den Adern haben!«
»Nein, nein, nein! Majnun und Laila haben immer nur einander geliebt. Überlegt doch, Marco -was brauchten sie denn einen anderen oder anderes?«
»Hm... ja«, sagte ich sinnend. »Überlegt die unendliche Vielfalt der ihnen offenstehenden Erfahrungen! Sie konnte der Mann werden und er die Frau. Oder sie konnte Laila sein und er konnte sie als Löwe besteigen. Er konnte Majnun sein und sie eine zarte qazel. Oder sie konnten beide jemand völlig anderes sein. Oder sie konnten beide taufrische Kinder sein, oder beide Männer oder beide Frauen, oder der eine erwachsen und der
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