Marco Polo der Besessene 1
werden sollte. In einem solchen Fall schrieb das Familienoberhaupt die gesamte Ahnenliste für den mirasi auf oder diktierte sie ihm, und diesem oblag es dann, die Namen in Reim und Rhythmus zu bringen - zumindest hat man mir das so gesagt; ich selbst konnte nie etwas anderes als einen ziemlich eintönigen Lärm in dem stundenlangen Gesang und sarangi-Gekratze erkennen. Ich nehme an, das erfordert eine ganze Menge Können, doch nachdem ich einmal zugehört hatte, wie »Reza Feruz zeugte Lotf Ali und Lotf Ali zeugte Rahim Yadollah« und so weiter von Adam bis zum heutigen Tag, machte ich mir nicht noch einmal
die Mühe, einer solchen Darbietung zu folgen. Was ein najhaya malang zu bieten hat, verblaßte nicht ganz so schnell. Ein malang ist das gleiche wie ein darwish, ein heiliger Bettler, und selbst auf dem Dach der Welt gab es Bettler, einheimische wie durchziehende. Einige von ihnen boten immerhin etwas, ehe sie bakhshish heischten. Ein malang hockt sich im Schneidersitz vor einen geflochtenen Korb und dudelt auf einer einfachen Rohr-oder Tonflöte. Dann hebt eine najhaya-Schlange den Kopf aus dem Korb, spreizt hutförmig die Nackenrippen und bewegt sich anmutig hin und her, daß es aussieht, als wiege und tanze sie sich im Takt des heiseren Gedudels. Bei der najhaya handelt es sich um eine tückische Giftschlange, und jeder malang behauptet, niemand außer ihm besitze eine solche Macht über die Schlange -eine durch okkulte Mittel erworbene Macht. So handele es sich zum Beispiel bei dem Korb um eine besondere, khajur genannte Art, die ausschließlich ein Mann flechten dürfe; die einfache Flöte müsse mystisch geweiht sein, und bei der Musik handele es sich um eine nur Eingeweihten bekannte Melodie. Ich jedoch bekam bald heraus, daß den Schlangen die Giftzähne ausgebrochen und sie daher harmlos waren. Und da Schlangen keine Ohren haben, merkte man, daß die najhaya nur hin-und herschwankte, um - ohnmächtig, wie sie war - ihr Ziel -die sich hin-und herbewegende Flöte -nicht aus den Augen zu verlieren. Der malang hätte genausogut eine wohlklingendmelodische venezianische furlána aufspielen können.
Manchmal ertönte plötzlich irgendwo Musik, ich ging dem Klang nach und stieß auf eine Gruppe stattlicher Kalash-Männer, die im Bariton »Dhama dham mast qalandar...« sangen und ihre utzar genannten roten Schuhe anzogen, die sie nur trugen, wenn sie loslegen wollten, ihren dhama genannten Stampf-und Hüpftanz zu tanzen. Oder ich vernahm das dumpfe Getrommel und wilde Gepfeife, das einen noch aufregenderen hinreißenden Wirbeltanz begleitete, den sie attan nannten und an dem das gesamte Lager, Männer wie Frauen, teilnehmen
konnten. Als ich einmal mitten in der Dunkelheit der Nacht Musik anschwellen hörte, folgte ich dem Klang bis zu einem kreisrund aus Wagen angelegten Sindi-Lager, wo ausschließlich Frauen tanzten und dabei sangen: »Sammi meri warra, ma'in wa'ir...« Unter den Zuschauern entdeckte ich auch Nasenloch, der lächelnd mit den Fingern den Takt auf seinen Bauch klopfte, denn das hier waren Frauen seiner Heimat. Für meinen Geschmack waren sie zu füllig und neigten auch dazu, einen Oberlippenbart zu bekommen, doch der Tanz im Mondenschein war hübsch anzusehen. Ich setzte mich neben Nasenloch, der sich gegen das Rad eines der Planwagen lehnte, und er übersetzte und deutete mir den Tanz. Die Frauen erzählten eine tragische Liebesgeschichte, sagte er -die Geschichte der Prinzessin Sammi, die sterblich in den jungen Prinzen Dhola verliebt war. Als die beiden herangewachsen waren, ging er fort und vergaß sie und kehrte nie zurück. Eine traurige Geschichte, doch konnte ich einiges an Verständnis für Prinz Dhola aufbringen, denn bestimmt hatte Prinzessin Sammi beim Erwachsenwerden einen Schnurrbart bekommen und war dick geworden.
Jede Sindi-Frau muß an diesem Tanz teilgenommen haben, denn in dem Wagen, gegen den Nasenloch und ich uns lehnten, greinte und schrie ein kleines unruhiges Kind so laut, daß es selbst die volltönende Sindi-Musik übertönte. Ich ertrug das eine Zeitlang, immer in der Hoffnung, daß das Kind schließlich einschlafen -oder ersticken -würde, was, war mir ziemlich gleichgültig. Als jedoch nach langer Zeit weder das eine noch das andere eintraf, machte ich meiner Wut knurrend Luft.
»Erlaubt, daß ich es zur Ruhe bringe, Herr«, sagte Nasenloch,
stand auf und kletterte in den Wagen. Die Schreie des Kindes gingen erst in ein Gurgeln über, um dann ganz zu
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