Marco Polo der Besessene 1
inzwischen vom Byzantinischen Reich abgelöst worden war. Da jedoch mein anderer Onkel und mein Vater das Familienunternehmen in den Händen äußerst fähiger und vertrauenswürdiger Angestellter gelassen hatten und der Familienpalazzo von gleichermaßen tüchtigen Domestiken geführt wurde, ließ Zio Marco alles beim alten. Nur die wichtigsten und am wenigsten dringenden Angelegenheiten wurden per Kurierschiff an ihn weitergeleitet, damit er sich mit ihnen befasse und die nötigen Entscheidungen fälle. Auf diese Weise geleitet, ging es mit der Compagnia Polo und der Ca' Polo genauso gut weiter wie eh und je.
Das einzige, was zu den Polo gehörte und nicht funktionierte, war ich. Als letzter und einziger männlicher Sproß vom Stamm der Polo - zumindest in Venedig -, mußte ich gehütet werden wie ein Augapfel, und dessen war ich mir vollauf bewußt. Wenn ich auch noch in einem Alter stand, da ich mit der Leitung des Geschäfts wie des Hauses (und da muß ich von Glück sagen) noch nichts zu schaffen hatte, war ich, was mein eigenes Tun und Lassen betraf, gleichfalls keinem Erwachsenen verantwortlich. Daheim tat ich, was ich wollte, und wußte mich auch durchzusetzen. Weder Zia Zulia noch unser Maggior domo, der alte Attilio, noch irgendeiner der kleineren Dienstboten wagte es, die Hand gegen mich zu erheben, und dass jemand die Stimme gegen mich erhob, kam gleichfalls nur selten vor. Meinen Katechismus sagte ich nie wieder auf, und bald vergaß ich sämtliche Antworten. In der Schule fing ich an zu schwänzen. Als Fra Varisto es resignierend aufgab, mir mit den Mongolen zu kommen, und statt dessen zur Rute griff,
blieb ich dem Unterricht einfach fern. Es ist ein kleines Wunder, dass ich überhaupt etwas lernte. Immerhin blieb ich lange genug in der Schule, um Lesen und Schreiben zu lernen, rechnen zu können und das Handelsfranzösisch einigermaßen zu beherrschen; das jedoch lag hauptsächlich daran, dass ich wußte, diese Fertigkeiten würde ich brauchen, wenn ich alt genug wäre, um das Familienunternehmen zu übernehmen. Von der Weltgeschichte und -beschreibung bekam ich immerhin so viel mit, wie im Alexanderbuch steht. All dies verleibte ich mir hauptsächlich deshalb ein, weil die Eroberungszüge des großen Alexander ihn gen Osten geführt hatten und ich mir ausmalen konnte, dass mein Vater und mein Onkel einigen seiner Spuren gefolgt wären. Freilich sah ich es als höchst unwahrscheinlich an, dass ich jemals des Lateins mächtig sein müsse, und so kam es, dass, als meine Klasse die Nase gemeinsam in die langweiligen Regeln und Vorschriften des Timen steckte, ich die meine auf etwas anderes richtete.
Wiewohl die Erwachsenen im Hause laut lamentierten und mir ein böses Ende voraussagten, glaubte ich persönlich nicht wirklich, dass mein Eigensinn darauf schließen ließ, ich sei ein schlechtes Kind.
Meine Hauptsünde war schließlich die Neugierde, die nach unseren abendländischen Wertmaßstäben freilich in der Tat eine Sünde ist. Sitte und Herkommen heischen ja wirklich, dass wir uns fügsam und angepaßt an unsere Nächsten und an unseresgleichen verhalten. Die heilige Kirche verlangt, dass wir glauben und alle Fragen und Ansichten unterdrücken, zu denen unser Verstand uns bringt. Die merkantile Philosophie der Venezianer läßt nur jene greifbaren Wahrheiten gelten, die auf der untersten Zeile des Hauptbuches stehen, in dem Soll und Haben gegeneinander aufgerechnet werden.
Irgend etwas in meinem Wesen rebellierte jedoch gegen die Einengungen, die alle anderen meines Alters, meiner Schicht und in meiner Lage akzeptierten. Ich wollte ein Leben jenseits der Regeln und Linien im Hauptbuch und der Zeilen im Meßbuch führen. Ich brannte vor Ungeduld und war wohl auch mißtrauisch gegenüber der überkommenen Weisheit jener Brocken von Informationen und Ermahnungen, die so säuberlich ausgewählt und zugerichtet und zum Verzehr und zur Einverleibung dargereicht werden wie die Gänge bei einer Mahlzeit. Ich zog es vor, mir auf eigene Faust Wissen anzueignen, selbst wenn es mir roh und ungenießbar vorkam und es mir Ekel erregte, es zu schlucken, was ziemlich oft der Fall war. Meine Vormünder und Schulmeister warfen mir vor, aus Faulheit der harten Arbeit aus dem Weg zu gehen, der es bedurfte, um sich Bildung anzueignen. Nie wäre es ihnen in den Sinn gekommen, dass ich beschlossen hatte, einem weit schwierigeren Pfad zu folgen, und bereit war, diesem zu folgen, wohin immer er mich führte, von
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