Marco Polo der Besessene 1
dieser Kindheitszeit all die Jahre meines ganzen Erwachsenendaseins hindurch.
An den Tagen, da ich der Schule fernblieb und nicht nach Hause gehen konnte, mußte ich irgendwie irgendwo die Zeit totschlagen, und so trieb ich mich manchmal im Hof und in den Gebäuden der Compagnia Polo herum. Das Anwesen lag damals wie heute an der Riva Ca' de Dio, jene Hafenesplanade, die unmittelbar auf die Lagune hinausgeht. Auf der Wasserseite wird diese Esplanade von hölzernen Landungsstegen gesäumt, zwischen denen Bug an Heck und auch Seite an Seite Schiffe und Boote vertäut sind. Da gibt es größere und kleinere Fahrzeuge: die flachbodigen bateli und gondole privater Häuser, die bragozi genannten Fischerboote und die schwimmenden Salons, die burchielli heißen. Außerdem lagen dort die wesentlich größeren seegängigen Galeeren und Galeassen Venedigs, darunter ab und zu englische und flämische Koggen, slawische Tmbacoli und levantinische Kaike. Viele von diesen Seefahrzeugen sind so groß, dass ihre Vordersteven und Bugsprits über die Straße hinausragen, fast bis hinan an die vielfältigen Hausfronten, welche die Landseite der Esplanade bilden und dort ein Schattengewirr auf ihr Katzenkopfplaster werfen. Eines dieser Gebäude war (und ist) unseres : ein gähnend-weitläufiges Lagerhaus, in dem ein kleiner Raum als Kontor abgetrennt ist.
Mir gefiel das Lagerhaus. Es war erfüllt von den Wohlgerüchen aller Länder der Erde, denn es war voll gestapelt mit Säcken und Kisten und Ballen und Fässern, die alles enthielten, was die Erde zu bieten hatte -von Wachs aus der Berberei und englischer Wolle bis zu Zucker aus Alexandria und Sardinen aus Marseille. Bei den Lagerhausarbeitern handelte es sich um muskulöse Männer, die Hämmer und Stauhaken, aufgeschossene Seile und anderes Werkzeug mit sich herumtrugen. Diese Leute hatten immer zu tun: da war wohl einer dabei, Zinnwaren aus Cornwall in Rupfen zu verpacken, während ein anderer den Deckel auf ein Faß mit Olivenöl aus Katalonien hämmerte und noch ein anderer eine Kiste mit Seife aus Valencia hinaustrug auf den Quai und alle allen immerzu Befehle wie »Logo!« oder »A cornado!« zuriefen.
Doch im Kontor gefiel es mir nicht minder. In diesem vollgestopften Verschlag saß der Mann, dem die Leitung all dieser Geschäfte und Geschäftigkeit oblag, der alte Schreiber Isidoro Priuli. Anscheinend ohne auch nur einen Muskel zu betätigen, ohne herumzurennen und zu brüllen und ohne jedes Gerät bis auf seine kügelchenbestückte Rechenmaschine, seine Schreibfedern und Kontobücher beherrschte Maistro Doro diesen Schnittpunkt aller Handelsstraßen der Welt. Es bedurfte nur eines leisen Kückens der farbigen Kügelchen seiner Rechenmaschine und einer mit kratzendem Federkiel vorgenommenen Eintragung ins Hauptbuch, und schon schickte er eine Amphore korsischen Rotweins nach Brüssel und im Austausch dafür eine Docke flandrischer Spitze nach Korsika -und, während diese beiden Dinge in unserem Lagerhaus aneinander vorübergingen, ein Metadella-Maß vom Wein zu nehmen und eine Elle Spitze abzuschneiden, auf dass der Gewinn der Polo an dieser Transaktion gesichert sei.
Da ein großer Teil der gelagerten Waren leicht in Flammen aufgehen konnte, gestattete Isidoro sich nicht einmal den Luxus, seinen kleinen Arbeitsplatz mit Hilfe einer Lampe oder auch nur einer einzelnen Kerze zu erhellen. Dafür hatte er an der Wand hinter ihm und ihm zu Häupten einen großen, aus echtem Glas gebauten konkaven Spiegel anbringen lassen, der so viel Helligkeit vom Tag draußen einfing wie möglich und sie
auf sein hochbeiniges Pult richtete. Wenn er dort bei seinen Büchern hockte, sah Maistro Doro aus wie ein sehr kleiner, in sich zusammengeschrumpfter Heiliger mit übergroßem Heiligenschein. Da stand ich dann wohl, spähte über den Rand seines Pultes hinweg und konnte es nicht fassen, dass der Maistro mit einem einzigen kleinen Fingerschnippen eine solche Befehlsgewalt ausüben konnte, während er mir von seiner Arbeit erzählte, die ihn mit so großem Stolz erfüllte.
»Die heidnischen Araber waren es, mein Junge, die der Welt diese Schnörkel schenkten, welche Zahlen darstellen -und diese Rechenmaschine, sie zusammenzuzählen. Venedig jedoch war es, das der Welt das System der doppelten Buchführung gab -die Bücher mit den beiden einander gegenüberliegenden Seiten, auf denen Soll und Haben eingetragen werden. Links Soll und rechts Haben.«
Ich zeigte auf eine Eintragung auf der
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