Marco Polo der Besessene 1
auch die Laute nicht zu hören, die hinterher herunterdrangen. Mir freilich entging weder das eine noch das andere, genausowenig wie meinem nüchternen Vater und unseren beiden Mönchen. Aufmerksam horchend, vernahm ich in der Ferne dumpfes Gepolter und leise Schreie, Befehle, die man nicht ganz mitbekam, und eine eindringliche Abfolge von dumpfen Bumsern. Mein Vater und die Fratres erhoben sich vom Tuch, ich folgte ihrem Beispiel, und alle gemeinsam halfen wir Onkel Mafio in die Höhe. Dann machten wir fünf eine Anzahl von Bücklingen vor unserem Gastgeber Hampig -der völlig betrunken war und den es nicht im geringsten kümmerte, ob wir blieben oder gingen -und zogen uns in unser eigenes Quartier zurück.
Wir Polo verbrachten den nächsten Vormittag in Begleitung des Palastverwalters Arpad wieder im bazar. Daß er das tat, war wirklich heldenhaft, denn er litt ganz offensichtlich unter den Nachwirkungen der feuchtfröhlichen Nacht. Doch ungeachtet seines Kopfwehs fungierte er bei einer ganzen Reihe schier endloser Transaktionen hervorragend als unser ›Hand-imÄrmel‹-Feilscher. Mit seiner Hilfe erstanden wir Sättel und Satteltaschen, Zaumzeug und Woilachs und ließen all diese Dinge samt unseren Pferden von den bazär-Burschen zu den Stallungen des Palastes bringen. Wir kauften Wassersäcke aus Leder und viele Beutel von Trockenobst und Rosinen und große Ziegenkäse, die durch einen Überzug aus duftendem Bienenwachs vor dem Verderben geschützt waren. Auf Arpads Vorschlag hin kauften wir ein Gerät, das kamäl genannt wurde, im Grunde nichts weiter als ein handtellergroßes Rechteck aus hölzernen Streben, ähnlich einem leeren kleinen Bilderrahmen, von dem eine lange Schnur herunterhing.
»Jeder Reisende«, sagte Arpad, »vermag nach der Sonne oder den Sternen Norden, Osten, Westen und Süden zu bestimmen. Ihr wollt gen Osten, und wie weit ihr nach Osten vorankommt, könnt ihr aufgrund eurer Reisegeschwindigkeit abschätzen. Nur hält es gelegentlich schwer, genau zu erkennen, wie weit nach Norden oder Süden ihr von der genauen Ostrichtung abgewichen seid. Und da kann das kamäl euch helfen.«
Mein Vater und mein Onkel stießen Laute der Überraschung aus und bekundeten ihr Interesse. Behutsam legte Arpad beide Hände an den Kopf; offensichtlich tat es ihm weh, wenn laute Geräusche ertönten.
»Die Araber sind Ungläubige«, sagte er, »und verdienen weder Achtung noch Bewunderung - dies nützliche Gerät jedoch haben sie erfunden. Hier, Ihr werdet den Nutzen davon haben, junger monsieur Marco -ich werde Euch zeigen, wie das geht. Heute abend, wenn die Sterne zum Vorschein kommen, wendet Ihr Euch gen Norden und haltet das kamäl auf Armeslänge von Euch. Haltet es nahe an Euer Gesicht heran und bewegt es dann davon fort, bis der untere Rand des Rahmens genau auf dem nördlichen Horizont aufliegt und der Nordstern genau den oberen Rand berührt. Dann schlingt einen Knoten in die Schnur an genau jener Stelle, die ihr zwischen den Zähnen habt, wenn der Rahmen diese Stellung einnimmt. Auf diese Weise könnt Ihr das Rechteck oder den Rahmen immer genau in derselben Entfernung von Eurem Auge vor Euch hinhalten.«
»Alles schön und gut, Arpad«, sagte ich folgsam. »Aber was
dann?« »Wenn ihr von hier aus gen Osten zieht, ist das Land fast überall flach wie ein Brett; damit habt Ihr mehr oder weniger immer einen ganz waagerechten Horizont vor Euch. Haltet nun jeden Abend das kamäl bis zum Knoten in der Schnur vor Euch hin, so daß der untere Rand des Gerätes auf dem nördlichen Horizont aufliegt. Befindet sich der Nordstern immer noch am oberen Rand, befindet Ihr Euch genau Östlich von Suvediye. Funkelt der Stern jedoch merklich oberhalb des Rahmenrands, seid Ihr nach Nordost abgewichen. Sitzt er darunter, heißt das, Ihr seid nach Südosten abgewichen.«
»Cazza beta!« entfuhr es meinem Onkel voller Bewunderung. »Das kamäl kann aber noch weit mehr«, sagte der Verwalter. »Befestigt ein Etikett mit der Aufschrift Suvediye am ersten Knoten, den Ihr macht, junger Marco. Erreicht Ihr Baghdad, justiert das Rähmchen aufs neue -je nachdem, weiter oder näher an Eurem Gesicht, aber jedenfalls so, daß es wieder genau zwischen Horizont und Nordstern paßt. Den Knoten, den Ihr dann schlingt, kennzeichnet mit Baghdad. Fahrt Ihr damit die ganze Reise über fort und macht Ihr bei jedem neuen Ziel einen neuen Knoten, werdet Ihr stets wissen -zumindest, solange Ihr gen Osten zieht -, ob Ihr Euch nördlich
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