Marcos Verlangen
bewusst. Sie war dicht an ihn herangetreten und stand so nahe bei ihm, dass er ihren inzwischen schon fast verflogenen Duft und die Wärme ihres Körpers wahrnehmen konnte.
Es war unpassend. Oder es war sehr passend, je nachdem wie man es betrachtete. Sie standen nebeneinander vor einem perfekten Gemälde im gedämpften Licht einer perfekten Umgebung. Sogar der Wachmann schien, von einer unbestimmten Vorahnung getrieben, ihr heimlicher Komplize geworden zu sein und hatte seinen Posten verlassen. Sie konnten ihn aus der Ferne mit seiner Kollegin aus dem Nachbarsaal leise plaudern hören. Die Zeit schien stillzustehen. Ihre Blicke zogen sie immer näher zueinander hin. Alles geschah in unendlicher Langsamkeit, mit Bedacht, in freudiger Erwartung dessen, was nun geschehen würde.
Als schließlich ihre Lippen aufeinander trafen, stockte beiden unwillkürlich der Atem. Die Spannung zwischen ihnen war überwältigend. Sein Arm legte sich um ihre Taille, ihre Hand vergrub sich in seinem Haar. Ihre Lippen waren weich und einladend, sie öffnete sie bereitwillig für seine Zunge, die die Einladung ohne Zögern annahm und sachte ihren Mund zu erforschen begann. Ella schmiegte sich eng an ihn, was ihm ein unkontrolliertes Stöhnen entlockte. Sie antwortete ihm auf die gleiche Weise und rückte noch näher an ihn heran.
Ein Räuspern riss sie unbarmherzig zurück in die Wirklichkeit. Das Wachpersonal hatte seinen Plausch beendet. Sie hielten verlegen inne.
Ella wandte sich atemlos ab und ließ sich auf die Bank fallen, die in der Mitte des Saales stand. Sie sah grinsend zu Marco auf, der in der Zwischenzeit den Saal umrundete und sich dann zu ihr gesellte. Er setzte sich von der anderen Bankseite aus neben sie, so dass sie sich eher gegenüber saßen als nebeneinander. Schließlich hatten sie sich beide so weit gefangen, dass sie einander wieder in die Augen sehen konnten.
„Weißt du, dass das Rettung in letzter Sekunde war?“ wisperte er an ihrem Ohr. „Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte diese Räume entweiht.“
Sie lachte leise auf. „Ich war auch wie weggetreten – ich dachte eigentlich, so etwas passiert nur Teenagern.“
„Offensichtlich nicht! Wie peinlich.“ Sein zweideutiges Lächeln strafte seine Worte Lügen. Es war ihm offensichtlich alles andere als peinlich.
Sanft berührte er ihre Wange, fuhr mit dem Finger zärtlich die Form ihrer Ohrmuschel nach und folgte schließlich der Kontur ihrer Lippen, bis sie diese öffnete und mit der Zungenspitze seinen Finger begrüßte. Er schluckte hart.
„Wenn wir so weitermachen, dauert es ewig, bis ich wieder aufstehen und diese Räume verlassen kann“, versuchte er zu scherzen, doch seine Stimme klang äußerst angespannt.
Ella verstand und er konnte sehen, dass sie rot wurde. Doch dann lächelte sie spitzbübisch. „Dann sollten wir mal überlegen, wie wir Mittel und Wege finden, deinem Zustand abzuhelfen.“
Er riss die Augen auf und sah sie fassungslos an.
„Was – hier?“
„Wenn du nicht nach draußen kannst – wo sonst?“
„Und – wie stellst du dir das vor?“ Nun runzelte er die Stirn. Ihre Miene war nicht lesbar.
„Ganz einfach. Hast du dieses Jahr schon deine Steuererklärung abgegeben?“
„Meine Steuer… - na, du gefällst mir.“
„Das habe ich bemerkt, danke.“
„Was soll diese merkwürdige Frage nach meiner Steuererklärung? Willst du mich verschaukeln?“
Sie sah ihn nur ruhig an und antwortete nicht sofort.
„Also was nun? Hast du sie schon abgegeben oder nicht?“
„Was hat das mit uns zu tun?“
„Sag mal – bist du wirklich so weltfremd oder tust du nur so? Weißt du nicht, was eine Steuererklärung ist?“
Marco war am Ende mit seinem Latein und stand schließlich auf. Sah sie von oben herab irritiert an und schüttelte den Kopf.
„Was ist nur plötzlich in dich gefahren? Bist du bipolar?“
Ella schüttelte sich vor unterdrücktem Lachen.
„Nein, keineswegs. Aber du stehst hier vor mir, ohne in Verlegenheit zu geraten. War das nicht der Sinn dieser Übung? Immerhin könntest du diese Räume jetzt verlassen, oder?“
Mit einem entgeisterten Kopfschütteln ließ er sich wieder neben sie auf die Bank fallen und schlug eine Hand vor die Stirn.
„Oh, mein Gott“, klang es dumpf, „da bin ich dir ja schön auf den Leim gegangen.“
„Ja, nicht wahr?“ Die Belustigung war deutlich aus ihrer Stimme herauszuhören. „Aber es hat geholfen, oder etwa nicht?“
„Ja, das hat es ganz
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