Marcos Verlangen
vorbereitete. Während er noch vor dem Spiegel stand und sich rasierte, fragte er sich plötzlich, was er eigentlich von ihr wollte. Geistesabwesend ließ er den Rasierer sinken und starrte seinem Spiegelbild in die Augen.
Bisher war er einfach nur darauf fixiert gewesen, sie wiederzusehen und hatte täglich auf einen Anruf von ihr gewartet. Nun war er tatsächlich kurz davor, einen Abend mit ihr zu verbringen, der – das hatte sie ihm vorher schon klargemacht – nicht im Bett enden würde. Unwillkürlich musste er schmunzeln, als er an ihr Geständnis dachte, er mache sie an. Das war immerhin ein Anfang, sagte er sich. Aber – wie sehr interessierte sie ihn? Genug, um etwas Ernsthaftes in Erwägung zu ziehen?
Marco Mingoni hatte vor kurzem erst eine Beziehung beendet, die sich ganz seinen eigenen Spielregeln folgend auf der rein horizontalen Ebene abgespielt hatte. Er und eine seiner Dozentenkolleginnen hatten sich regelmäßig zu erotischen Stelldicheins getroffen und über Jahre hinweg eine Affäre ohne Rechte und ohne Pflichten gepflegt. Sie hatten sich gesehen, wann und wo er es wollte und wenn er keine Lust gehabt hatte, dann hatte er sich gelegentlich auch wochenlang nicht bei ihr gemeldet. Sie war wie er ebenfalls verheiratet und hatte das Arrangement fraglos so akzeptiert, wie Marco es ihr diktiert hatte. Ihnen beiden war von Anfang an klar gewesen, dass keiner vom anderen mehr als eine lockere und ausschließlich körperliche Geschichte erwarten durfte. Auf dieser Basis war ihr Verhältnis trotz – oder wegen – Mingonis Dominanz erstaunlich lange gut gegangen, doch vor einigen Wochen war in seinem Leben etwas passiert, das ihn hatte umdenken lassen.
Er hatte Ella getroffen.
Er hatte seine Affäre nicht wegen ihr beendet, da er ja nicht einmal gewusst hatte, ob er sie überhaupt jemals wiedersehen würde, aber er hatte sie beendet, denn seit dieser Begegnung rumorte etwas sehr Unerwartetes in ihm: Sehnsucht.
Sehnsucht nach Gemeinsamkeit, nach Vertrauen, nach Ausschließlichkeit und nach Nähe.
Kopfgesteuert wie er war, hätte er nicht gedacht, dass diese Regungen nach all den vernunftschweren Jahren, die er hinter sich gebracht hatte, in ihm überhaupt noch lebendig sein würden, aber das bittere Verlangen, das er mit einem Mal danach verspürte, belehrte ihn eines Besseren. Und er beschloss, diesem Drang nachzugeben. Immerhin hatte ihm das Schicksal diese Frau zum Glück ein zweites Mal vor die Füße gespült - das war mehr Glück, als er sich hatte erträumen können.
Sie gefiel ihm wirklich sehr, gestand er sich ein, auch jetzt noch, nachdem er ein paar Stunden in ihrer Gesellschaft verbracht und seine Fantasien mit der Realität abgeglichen hatte. Es konnte also unter Umständen tatsächlich etwas sehr Ernsthaftes daraus werden…
Über all seinen Überlegungen kam er fast auch noch zu spät zum Treffpunkt, also nahm er ein Taxi und hastete die letzten Schritte um die Ecke. Er sah sie schon von weitem – offensichtlich hatte sie dieselbe Verspätung wie er und kam mit eiligen Schritten auf ihn zu. Sie winkten gleichzeitig und drosselten genauso gleichzeitig das Tempo. Trotzdem waren sie beide leicht außer Atem, als sie lachend voreinander stehen blieben.
„Puh, das war aber knapp“, platzte sie heraus, „ich konnte natürlich – typisch Frau – wieder mal nichts Anzuziehen finden. Und welche Ausrede hast du für deine sehr unfeine Eile?“
„Eine ganz ähnliche – der Kleiderschrank war mir davongelaufen und ich musste erst mal hinterher, um zu sehen, ob überhaupt etwas Annehmbares darin wäre.“
Sie lachte herzhaft los. „Schönes Bild. Hallo übrigens.“
„Ciao.“ Er ignorierte die ihm hingehaltene Hand und küsste sie einfach auf beide Wangen. Ihr Duft, der ihm dabei in die Nase stieg, drohte ihm schon zu Beginn des Abends die Sinne zu benebeln.
„Du hast übrigens eine gute Wahl getroffen“, meinte er anerkennend, nachdem sein Blick ungeniert an ihr auf und ab geglitten war. Sie trug ein leichtes Sommerkleid aus fließendem Stoff mit glockigem Rock und Neckholder-Top, das ihre leichte Bräune gut zur Geltung brachte. Sie wirkte sehr feminin und verführerisch darin. Kleider standen ihr, stellte er zufrieden fest, auch das vom Nachmittag hatte ihm gefallen.
„Du siehst zum Anbeißen aus!“, entfuhr es ihm, fast gegen seinen Willen.
„Danke – du aber auch! – Uups, das sollte man als Frau einem Mann wohl nicht unbedingt sagen, oder?“
„Warum
Weitere Kostenlose Bücher