Margos Spuren
und im Herbst fängt das College an, und dann musst du nie wieder bei deinen Eltern wohnen.«
»Es sind nicht nur meine Eltern. Ich würde da versumpfen, wo ich vorher war«, sagt sie, »und käme nie mehr da raus. Es ist nicht nur der Tratsch und die Partys und der ganze Mist, sondern dieses Spießertum – die Vorgabe, wie man sein Leben zu leben hat, Ausbildung, Beruf, Ehemann, Kinder und so weiter.«
Für mich ist Spießertum etwas anderes. Ich glaube an Bildung und an Berufe und vielleicht eines Tages an Kinder. Ich glaube an die Zukunft. Vielleicht ist das spießig von mir, aber dann ist es ein Geburtsfehler. »Mit einer Ausbildung hast du mehr Möglichkeiten im Leben«, sage ich schließlich. »Das ist das Gegenteil von Einschränkung.«
Sie grinst. »Danke, Studienberater Jacobsen.« Dann wechselt sie das Thema. »Ich habe versucht mir vorzustellen, was du in Osprey machst. Ob du dich dran gewöhnst. Ob du die Angst vor den Ratten überwindest.«
»Das habe ich«, sage ich. »Ich habe tatsächlich angefangen mich dort wohlzufühlen. Ich habe sogar den Schulball dort verbracht.«
Sie lächelt. »Toll. Ich habe mir gedacht, dass es dir irgendwann gefällt. In Osprey habe ich mich nie gelangweilt, aber das lag vielleicht daran, dass ich immer irgendwann nach Hause musste. Als ich dann hier war, ist mir schnell langweilig geworden. Es gibt keine Ablenkung. Ich habe nur noch gelesen, seit ich hier bin. Außerdem hat es mich nervös gemacht – die Einsamkeit und das Unbehagen, niemanden zu kennen. Irgendwie habe ich gedacht, diese Nervosität würde mich vielleicht dazu bringen, doch noch umzukehren. Aber das ist nicht passiert. Umkehren ist etwas, was ich nicht tun kann, Q.«
Ich nicke. Das verstehe ich sogar. Ich kann mir vorstellen, dass es schwer ist umzukehren, wenn man mal mit den Händen Kontinente umfasst hat. Trotzdem versuche ich es noch einmal. »Aber was willst du nach dem Sommer machen? Willst du nicht aufs College? Was ist mit dem Rest deines Lebens?«
Sie zuckt die Schultern. »Was soll damit sein?«
»Hast du keine Angst vor, ich weiß nicht, vor dem Immer ?«
»Das Immer besteht aus lauter Jetzts«, sagt sie. Dazu fällt mir nichts ein. Ich überlege noch, als Margo sagt : »Emily Dickinson. Wie gesagt, ich lese viel.«
Ich finde, die Zukunft verdient unsere Zuversicht. Aber es ist schwer, gegen eine geniale Dichterin wie Emily Dickinson anzureden. Margo steht auf, schultert den Rucksack, dann streckt sie mir die Hand entgegen. »Komm, wir machen einen Spaziergang.« Als wir draußen sind, leiht sie sich mein Telefon. Sie tippt eine Nummer ein, und ich gehe ein Stück vor, um sie reden zu lassen, doch sie hält mich am Arm fest, damit ich bei ihr bleibe. So schlendere ich neben ihr über die Wiese, während sie ihre Eltern anruft.
»Hallo, ich bin’s, Margo … Ich bin in Agloe in New York, mit Quentin … Oh … Hm … Nein, Mama … Ich versuche nur ehrlich auf deine Frage zu antworten … Komm schon, Mama … Ich weiß es nicht, Mama … Ich habe beschlossen, an einen fiktiven Ort zu ziehen, das ist passiert. … Ja … Nein … Ich glaube sowieso nicht, dass es mich in die Richtung verschlägt … Kann ich Ruthie sprechen? … Hallo, Kleine … Ja, aber ich hab dich schon länger lieb … Ja, tut mir leid. Das war ein Fehler. Ich dachte – ich weiß auch nicht, was ich dachte, Ruthie, aber es war ein Fehler, und deshalb rufe ich jetzt an. Vielleicht rufe ich Mama nicht mehr an, aber dich rufe ich an … Jeden Mittwoch? … Mittwoch hast du keine Zeit. Hm. Okay. An welchem Tag passt es dir? … Gut, dann Dienstag … Ja, jeden Dienstag … Ja, auch diesen Dienstag.« Margo presst die Augen zusammen und beißt auf die Zähne. »Okay, Ruthie, kannst du mir Mama noch mal geben? … Ich hab dich lieb, Mama. Mir geht’s gut. Ich schwöre … Ja, okay, du auch. Tschüs.«
Sie bleibt stehen und klappt das Telefon zu. Ich sehe, dass ihre Fingerspitzen rosa werden, so fest hält sie es, und dann wirft sie es auf den Boden. Ihr Schrei ist kurz, aber schrill, und danach spüre ich zum ersten Mal die unfassbare Stille von Agloe. »Sie denkt, es ist meine Aufgabe, ihr alles recht zu machen. Als müsste das mein einziger Wunsch sein, und wenn ich es ihr nicht recht mache – dann schließen sie mich aus. Sie hat die Schlösser austauschen lassen. Das war das Allererste, was sie gesagt hat. Mein Gott!«
»Tut mir leid«, sage ich und schiebe einen Büschel kniehohes gelbes Gras beiseite, um
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