Margos Spuren
wollte ich nachts mit dir die Streiche ausführen, die ich geplant hatte, und am nächsten Morgen wollte ich weg. Aber dann konnte ich einfach nicht mehr. Im Ernst, ich hätte es keine Stunde länger ausgehalten. Und als ich von der Sache mit Jason hörte, habe ich gedacht : ›Ist ja alles geplant. Ich brauche nur den Zeitpunkt vorzuziehen.‹ Tut mir leid, dass du dir Sorgen gemacht hast. Das wollte ich nicht, aber es musste alles so schnell gehen. War wohl nicht mein Meisterstück.«
Für einen übereilten Fluchtplan inklusive Hinweise ist es ziemlich beeindruckend, finde ich. Doch am meisten überrascht mich, dass ich auch in ihrem ursprünglichen Plan vorkam. »Vielleicht klärst du mich auf«, sage ich und bringe ein Lächeln zustande. »Ich habe mir ziemlich den Kopf zerbrochen, weißt du. Was war geplant und was nicht? Was hatte was zu bedeuten? Warum hast du die Hinweise mir hinterlassen, warum bist du überhaupt abgehauen.«
»Hm, okay. Also. Dafür muss ich mit einer anderen Geschichte anfangen.« Sie steht auf, und ich folge ihren Schritten, als sie geschickt den morschen Stellen im Boden ausweicht. Wir gehen in ihr Büro zurück, wo sie in ihren Rucksack greift und das kleine schwarze Buch herausholt. Dann setzt sie sich im Schneidersitz auf den Boden und zeigt auf die Stelle neben sich. Ich setze mich. Sie klopft auf das geschlossene Buch. »Das hier«, sagt sie, »habe ich schon sehr, sehr lange. Ich war in der vierten Klasse oder so, als ich irgendwann angefangen habe, eine Geschichte hier reinzuschreiben. Eine Art Detektivgeschichte.«
Ich denke, wenn ich ihr das Buch wegnehme, könnte ich sie wahrscheinlich erpressen. Ich kann sie damit zwingen, nach Orlando zurückzukehren, und dann würde sie in den Sommerferien jobben und sich, bis das College anfängt, eine Wohnung nehmen, und dann hätten wir wenigstens den Sommer. Doch ich höre nur zu.
»Ich meine, Eigenlob stinkt, aber das hier ist wirklich ein brillantes Stück Literatur. Nein, nur ein Witz. Es ist das beknackte kitschige möchtegernmagische Gesülze einer Zehnjährigen. Die Hauptfigur ist ein Mädchen namens Margo Roth Spiegelman, das genau so ist, wie ich mit zehn war, nur dass ihre Eltern nett und reich sind und ihr alles kaufen, was sie will. Margo ist verknallt in einen Jungen namens Quentin, der genau so ist wie du mit zehn warst, nur dass er furchtlos ist und heldenhaft und bereit, für mich zu sterben, und so weiter. Außerdem kommt Myrna Mountweazel darin vor, die genau so wie Myrna Mountweazel ist, außer dass sie Zauberkräfte hat. Zum Beispiel muss jeder, der Myrna Mountweazel streichelt, zehn Minuten lang die Wahrheit sagen und kann nicht lügen. Und Myrna Mountweazel kann sprechen. Natürlich kann sie sprechen. Hat eine Zehnjährige je ein Buch geschrieben, in dem ein Hund vorkommt, der nicht sprechen kann?«
Ich lache, aber ich denke noch darüber nach, dass Margo mit zehn in mich mit zehn verknallt war.
»Also, in der Geschichte«, fährt sie fort, »stellen Quentin und Margo und Myrna Mountweazel Nachforschungen über den Tod von Robert Joyner an, der genauso gestorben ist wie im richtigen Leben, nur dass er sich nicht selbst eine Kugel in den Kopf gejagt hat, sondern dass ihm jemand anderes eine Kugel in den Kopf gejagt hat. Die Geschichte handelt davon, wie wir der Sache nachgehen.«
»Und, wer war der Mörder?«
Sie lacht. »Willst du, dass ich die Spannung kaputt mache?«
»Na ja«, sage ich, »ich würde die Geschichte natürlich lieber selbst lesen.« Sie schlägt das Buch auf und zeigt mir eine Seite. Der Text ist vollkommen unleserlich, nicht weil Margo keine schöne Schrift hat, sondern weil sie über die waagerechten Zeilen außerdem senkrechte Zeilen geschrieben hat. »Ich schreibe über Kreuz«, erklärt sie. »Sehr schwierig für Nicht-Margos, das zu entschlüsseln. Also gut, ich will dir die Lösung verraten, aber zuerst musst du mir versprechen, dass du nicht sauer auf mich bist.«
»Versprochen«, sage ich.
»Es kommt raus, dass der Bruder von Robert Joyners alkoholkranker Exfrau den Mord begangen hat, weil er verrückt geworden war, nachdem der Geist einer bösen alten ägyptischen Hauskatze von ihm Besitz ergriffen hatte. Wie gesagt, ganz hohe Literatur. Jedenfalls, in der Geschichte ziehen du und ich und Myrna Mountweazel los und stellen den Mörder, und er versucht mich zu erschießen, aber du stürzt dich in die Schusslinie, und du stirbst überaus heroisch in meinen Armen.«
Ich lache.
Weitere Kostenlose Bücher