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Mari reitet wie der Wind

Mari reitet wie der Wind

Titel: Mari reitet wie der Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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noch ausgefragt werden. Sobald sie merkte, dass die Gardians anderweitig beschäftigt waren, schwang sie sich auf Palomas Rücken, indem sie sich flink wie eine Akrobatin an deren Mähne hochzog. Dann ritt sie im gestreckten Galopp davon: Die Weite des Strandes gehörte nur noch ihr und sie genoss es, mit Paloma in aller Ruhe die Kunststücke zu üben, die sie ihr vor langer Zeit beigebracht hatte. Es war Hochsommer, Ferienzeit. Doch das Naturschutzgebiet inmitten der großen Sümpfe blieb von dem Ansturm der Touristen weitgehend verschont. Die Vorschriften waren streng. Kampfstiere und Camargue-Pferde galten als scheu und un berechenbar. Die Gemeinde wollte kein Risiko eingehen. Wenn sie nicht Paloma ritt, kümmerte sich Mari um ihre kleine Schwester, trug sie herum und erzählte ihr Geschichten. Bei der Müllhalde in der Nähe ihres Wohnwagens hatte Lola zwei kleine Kätzchen gefunden, die brutale Menschen in einem Plastiksack ausgesetzt hatten. Die abgemagerten Kätzchen waren dem Tod nah gewesen, doch als Mari ihnen etwas Milch und eingeweichtes Brot gab, erholten sie sich schnell. Lola freute sich, dass ihre Kinder mit den Kätzchen spielten. Sie erklärte Mari, dass Asthma durch Tierhaare ausgelöst werden kann. Aber wenn Kinder mit Kätzchen aufwuchsen, gewöhnten sie sich daran und entwickelten einen Schutz gegen Asthma. Mari bewunderte ihre Mutter für ihr Wissen und war traurig, dass sie ihre Gaben nicht besser einsetzen konnte. Scheu und stolz, wie sie war, behielt Lola ihren Schmerz und ihre Bitterkeit für sich, doch die Armut zehrte sichtlich an ihren Kräften. Im Sommer kam das Geld mit Verspätung: Die Behörden machten Ferien. Lola und ihre Kinder hatten keine Seife, keine Zahnpasta mehr. Deborah bekam Durchfall. Als jedoch die ersten Äpfel reiften, hob Lola Fallobst am Wegrand auf und mach te daraus ein Kompott, das die Krankheit heilte. Trotz aller Widrigkeiten und Entbehrungen war Mari glücklich in dieser Zeit: sie hatte ja Paloma. Das Leben schien ihr wunderschön zu sein. Nie dachte sie darüber nach, was geschehen würde, wenn Marcel Aumale zurückkehrte. Manchmal kamen ihr wie ein fernes Echo Sandras Worte in den Sinn: »Du wirst im Kreis reiten.« Sie hatte dafür sogar den Zeitpunkt vorausgesagt: am Fest der Schwarzen Sara, der Schutzheiligen des »Fahrenden Volkes«. Das ist ja bald, überlegte Mari. Sie zählte an ihren Fingern: noch zwölf Tage! Mari bezweifelte nicht, dass an diesem Tag etwas ganz Besonderes geschehen würde. Die alte Sandra, daran glaubte Mari fest, irrte sich nie in solchen Dingen. Im September fing die Schule wieder an. Da Mari in ihrem Wohnwagen nur einen kleinen Taschenspiegel hatte, merkte sie kaum, wie sehr sie gewachsen war. Sie war viel zu dünn für ihr Alter, mit überlangen Armen und Beinen. Für ihren schmächtigen Körperbau wirkte ihr Kopf mit dem schwarzen Wuschelhaar zu groß. Einmal rief die Lehrerin sie nach dem Unterricht zu sich und fragte in strengem Ton, ob sie magersüchtig sei. Es gebe Mädchen, sagte sie, die sich absichtlich erbrachen. Mari starrte sie verständ nislos an, dann lachte sie, bis ihr die Luft ausging. Die Lehrerin merkte nicht, dass Maris Lachen zu schrill, fast fiebrig und kaum noch wie das eines Kindes klang. »Ich weiß nicht, was es da zu lachen gibt«, meinte sie nur. Mari verschwieg ihr, dass sie abends vor Hunger oft nicht einschlafen konnte und dass Lola jetzt Lebensmittel von der Wohlfahrt bezog. Ein paar Tage später ritt Mari dicht am Schilf entlang, wo die Hufspuren der Pferde und Stiere zu sehen waren. Die Luft war fast unbeweglich, die Hitze drückend. Die Farbe des Meeres war ein blasses, lebloses Blau. Palomas schwitzendes Fell klebte an Maris Schenkeln. Die Pferde, von Fliegen geplagt, standen träge in der flirrenden Luft. Selbst aus der Entfernung konnte man sehen, wie schlapp sie waren. Plötzlich kam in den Hitzeschleiern ein Reiter in Sicht, der sich rasch näherte. Mari kniff die Augen zusammen. Sie stieß einen kleinen Seufzer aus, als sie Gaston, Marcel Aumales Oberaufseher, erkannte. Obwohl Mari wusste, dass er sich oft in der Nähe aufhielt, hatte sie ihn seit Wochen nicht mehr gesehen. Ihr Instinkt sagte ihr, dass von dieser Begegnung nichts Gutes zu erwarten war. »Wie geht es dir, Mari?«, fragte er. Mari streichelte Palomas Hals.
    »Gut, Monsieur. « »Es ist bald Mittag«, fuhr Gaston fort. »Hast d u schon gegessen? « Mari schüttelte wortlos den Kopf . »Komm!«, sagte Gaston . Er ließ sich

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