Mari reitet wie der Wind
»Hoffentlich schaffen wir es irgendwie! Was soll bloß aus uns werden, wenn wir es nicht schaffen? Der Regen wird schrecklich stark sein . . .« In dumpfes Grübeln versunken, lief sie weiter, mit keuchendem Atem. Dann und wann leuchtete es am Himmel schwefelgelb auf. Eine mächtige Wolkenwand schien aus dem Meer zu wachsen. Wieder grollte der Donner, jetzt schon viel näher. Mari biss sich nervös auf die Lippen. »Mit dem Gewitter kommen hohe Wellen. Da können wir nicht hier unten auf dem Strand bleiben...da müssen wir über die Landstraße reiten. Schlimm, schlimm!«, murmelte sie vor sich hin. Kein Blatt regte sich. Die Luft knisterte. Mari hörte nur das Geräusch ihres eigenen Atems; ihr Herz schlug heftig. Endlich erblickte sie die Pferde. Sie standen dicht gedrängt, als suchten sie beieinander Schutz gegen das aufkommende Gewitter. Die Gardians waren nachts nicht da, das wusste Mari. Aber trotzdem durfte sie kein Risiko eingehen: Sie duckte sich tief im Schatten der Dü nen und stieß ihren gewohnten Pfiff aus. Eine leichte Unruhe erfasste die Herde. Die Tiere bewegten sich, scharrten mit den Füßen, ließen die Ohren spielen. Mari pfiff noch einmal. Da löste sich ein Pferd aus der Herde. Paloma! Die Stute schnaubte laut, schüttelte den Kopf, bevor sie sich in Bewegung setzte und in die Richtung trabte, aus der die Pfiffe gekommen waren. Mari rührte sich nicht vom Fleck. Paloma kam tänzelnd näher, ihre Mähne hob und senkte sich im Rhythmus ihrer Schritte. Mari pfiff abermals, leicht und lockend. Als Paloma den Schatten der Dünen erreichte, senkte sie den Kopf und ließ ein zufriedenes Schnauben hören. Mari sah ihre leuchtenden Augen. Rasch lief sie auf den Schimmel zu, umfasste mit beiden Händen die warme, struppige Mähne. Sie zog sich an dem Pferdekörper hoch. Paloma hielt geduldig still, bis das Mädchen auf ihrem Rücken saß. »Los!«, flüsterte sie. Paloma setzte sich in Trab. Maris Herz schlug vor Aufregung und Angst. Sie wollte am Strand und in den Sümpfen bleiben, solange es das kommende Unwetter zuließ. Bald rollte der Donner unaufhörlich. Violette Blitze fegten über das Meer, Wolken verdeckten die Sterne. Nach jedem Aufflackern wirkte der Strand für einen Moment lang fast so dunkel wie das Wasser. Die Luft geriet in Bewegung, die Wellen glucksten und schaukelten. Es roch nach Salz, Tang und Meer. Da – wieder ein greller Blitz. Für den Bruchteil einer Sekunde leuchtete Palomas Körper auf, als sei er aus Silber. Ein dumpfer Donnerschlag folgte. Die ersten dicken Regentropfen fielen. Mit dem Rauschen der Binsen kamen tausend kleine Geräusche, die die Reiterin umkreisten. Die See bewegte sich langsam und mächtig. Der Wind brauste in schweren Stößen daher. Die Luft war durchtränkt von der Kühle des Wassers. Das weiße Netz der Blitze überzog den Himmel. Die Wellen begannen zu brodeln. Schaumzungen leckten über den Strand, bis zu den Hufen des trabenden Pferdes. Die Wolken flogen tief; Regenmassen rissen kleine Sturzbäche in den Sand, prasselten heftig auf Maris Rücken. Nun erfasste sie der Wind mit voller Wucht. Mari beugte sich über den Hals der Stute. Es kam tatsächlich so, wie sie es befürchtet hatte: Am Strand konnte sie nicht bleiben, die Wellen brausten zu stark. Sie musste hinauf zur Straße! Sie presste ihre Fersen in Palomas Flanken, lenkte sie den Hang hinauf, in das Dickicht. Der Wind spülte den Regen in Kaskaden von den Bäumen. Nasse Zweige hingen herab, die Binsen wurden über den Boden gepeitscht. Schlamm spritzte unter Palomas Hufen auf. Mari, bis auf die Knochen durchnässt, duckte sich, um sich vor den niedrigen Zweigen zu schützen. Die Blitze tauchten die Landschaft in ein geisterhaftes Licht, alle Bäume ächzten und knarrten. Mari kam es vor, als bewegte sich die ganze Welt. Immer wieder wischte sie sich das Wasser aus dem Gesicht. Sie hatte völlig die Orientierung verloren. Da – was war denn das? Vor ihr brannte starkes weißes Licht. Es war ein scharf umrissenes Leuchten, wie Sonnenglut hoch über den Bäumen. Mari war verzaubert – aber weder erschrocken noch erstaunt. »Die Sonne um Mitternacht . . .«, schoss es ihr durch den Kopf. »Die Sonne, von der Sandra gesprochen hat...« Weiter konnte sie nicht denken: Ein gewaltiger Windstoß fegte durch die Baumkronen. Ein Splittern und Knacken erfüllte das Unterholz. Paloma wieherte, brach aus. Mari verlor das Gleichgewicht. Zweige und Blätter und Äste fielen wie ein Netz auf sie herab.
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