Mari reitet wie der Wind
linderte. Sie hatte die Kleine mit einem alten Wiegenlied beruhigt, das sie leise vor sich hin summte, wobei ihre schmalen Finger den Takt dazu schlugen. Nun schlief auch die Mutter. Mari hörte ihre gepressten Atemzüge. Lola hatte Jasminzweige über ihrem Bett befestigt, die schwach dufteten. So wurde der Gestank aus der nahen Müllhalde etwas gedämpft. Die beiden kleinen Kätzchen schlummerten in ihrem Körbchen.
Mari aber weinte still, mit geschlossenen Augenlidern. Nie zuvor hatte sie das Gefühl gehabt auf so entsetzliche Weise verraten worden zu sein. Sie dachte an Paloma, ihre einzige wahre Freundin. Die Einzige, die sie niemals verletzt und niemals enttäuscht hatte. Paloma, für die sie eine solche Zärtlichkeit empfand und die ihr so viel Kraft gab. Mari konnte nicht zulassen, dass sie das Spielzeug eines solchen Scheusals wurde! Dass Gaston sie zureiten wollte, machte es fast noch schlimmer. Der Oberaufseher kannte die Pferde. Er wusste, wie man mit einem stolzen, scheuen Tier umging, wie man es an Zaumzeug und Sattel gewöhnte. Gaston hatte viel Geduld; Paloma würde Zutrauen zu ihm fassen. Er würde dem Gutsherrn ein perfekt dressiertes Pferd überlassen, das sich nicht mehr zu wehren verstand. Ein Pferd, das nicht mehr die Ohren zurücklegte und die Zähne entblößte, sobald es die Peitsche sah. Palomas Mut, ihr Feuer würden für immer verschwinden. Mari drückte ihr Gesicht in das verschwitzte Kissen. Nein, das durfte nicht sein! Sie musste etwas unternehmen. Jetzt, sofort – sonst war es zu spät. Folco fiel ihr ein. Folco, der alte Trapezkünstler in Sète. Wenn sie sich jetzt gleich auf den Weg machte, konnte sie Paloma in Sicherheit bringen, bevor Gaston sie morgen von der Weide holte. Natürlich würde er sofort ahnen, wer für das Verschwinden des Pferdes verantwortlich war. Wenn er es Marcel Aumale sagte, würde der bestimmt die Polizei einschalten. Aber Mari hatte ihren Vater oft sagen hören: »Solange man kein Geständnis ablegt, können sie einem nichts anhängen.« Obwohl Mari nicht sicher war, ob das wirklich stimmte, klammerte sie sich an diesen Satz. Sie hatte eine Chance: Es genügte, den Mund zu halten. Und wenn es darauf ankam, war Mari verschwiegen wie ein Grab . . . Rasch kleidete sie sich im Dunkeln an. Sie durfte keine Zeit mehr verlieren. Zwischen Les-Saintes-Maries und Sète verkehrte ein Autobus. Mari hoffte, dass Onkel Folco ihr das Geld für die Rückfahrt geben konnte. Lola erwachte nicht, als Mari lautlos durch den Wohnwagen ging und behutsam die Tür hinter sich schloss. Erst draußen auf den Stufen schlüpfte sie in ihre Turnschuhe. Dann machte sie sich auf den Weg. Die Nacht war pechschwarz und viel zu ruhig. Die Sterne funkelten seltsam klar. Kein Windhauch regte sich. Maris Wangen brannten und schon bald klebte ihr Gesicht vor Schweiß! Ein Gewitter zieht auf!, dachte Mari beunruhigt. Das war schlimm, denn falls es regnete, würden Palomas Spuren in der feuchten Erde deutlich sichtbar sein. Doch eigensinnig lief Mari weiter. Dieses Risiko musste sie in Kauf nehmen. In Les-Saintes-Maries waren Restaurants und Cafés noch hell erleuchtet und voller Gäste. Es roch nach Abgasen, gebratenem Fisch und gerösteten Mandeln. Mari lief durch den dichten Verkehr und ließ bald die Ortsgrenze hinter sich. Ihre Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit. Über der Landstraße flimmerte der Sternenhimmel. Glühwürmchen leuchteten unter den Büschen. Grillen zirpten. Die salzige Luft war von Düften getränkt. Manchmal ertönte Motorengeräusch, Scheinwerfer glitten über Bäume und Schilf. Dann tauchte Mari rasch ins Dickicht, bevor das Licht der vorbeifahrenden Wagen sie erfassen konnte. Als Mari die großen Dünen erreichte, waren die Grillen plötzlich verstummt. Sie verlangsamte ihren Schritt, wischte sich den Schweiß von der Stirn. Gerade als sie den Weg zum Strand einschlagen wollte, vernahm ihr feines Ohr ein fernes Rumpeln. Sie drehte den Kopf in Richtung des Geräusches. Das Gewitter kam vom Meer – es würde also besonders heftig sein. Nach einer Weile brummelte der Donner stärker. Mari hatte das Gefühl, dass sich das Unwetter mit rasender Geschwindigkeit näherte. Atemlos stapfte sie die Dünen entlang, vorsichtig darauf bedacht, immer im Schatten zu bleiben. Gerade als sie die Weide erreichte, flackerte grellgelbes Licht am Horizont auf. Das Meer wirkte plötzlich schwarz wie Pechkohle. In ihrer Aufregung begann Mari laut vor sich hin zu jammern:
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