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Maria, Mord und Mandelplätzchen

Maria, Mord und Mandelplätzchen

Titel: Maria, Mord und Mandelplätzchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Stöger
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mit einem Krachen in den Stamm der Tanne. Unwillkürlich zuckte er zusammen: Er hätte nicht gedacht, dass er einen solchen Lärm verursachen würde. Sein zweiter Hieb war etwas zurückhaltender, auch der dritte und der vierte waren leiser. Beim fünften knackte es ein paar Sekunden, und die Tanne geriet ins Wanken, schwankte ganz leicht nach vorn, schien es sich dann aber noch einmal zu überlegen. Er duckte sich, doch der Baum änderte seine Richtung erneut und glitt mit einem Zischen der Äste, das klang, als würde eine Windböe hindurchfahren, sanft in den tiefen Schnee. Zufrieden betrachtete er sein Werk: Gut, der Baum war nicht besonders groß, aber ihn mit nur fünf Schlägen zu fällen, war für einen Mann seines Alters beachtlich. Er packte sein Werkzeug wieder weg, griff den Baum an der Stelle, an der er ihn mit der Axt durchtrennt hatte, und zog ihn vorsichtig durch den Schnee hinter sich her. Der Rückweg zu seinem Wagen kam ihm ungleich beschwerlicher vor als der Hinweg. Seine Oberschenkel brannten, und seine Schulter schmerzte. Er war froh, dass er die Rücksitze seines alten Passats, den er jetzt am Waldrand erblickte, bereits umgeklappt hatte, denn er schwitzte und wollte sich nicht länger als nötig in der Kälte aufhalten. In dem Moment, in dem er sein Auto erreicht hatte, zuckte ein greller Blitz vor seinen Augen auf. Kurzzeitig war er geblendet, und erst allmählich zeichneten sich hinter dem Lichtkegel die Umrisse zweier Menschen ab. Obwohl das gleißende Licht noch immer auf ihn gerichtet war, sah er, dass sie grüne Jacken trugen und auf dem Kopf eine Uniformmütze. Einer von ihnen seufzte tief und sagte dann: »Frohe Weihnachten, der Herr.«
     
    Allmählich machte sich Erika ernsthaft Sorgen. Wieder schob sie den Vorhang des Wohnzimmerfensters zurück und lugte in den Hof. Kein Auto. Dabei war er schon über zwei Stunden weg, und längst war es dunkel geworden. Sicher, ihr Mann kam schon einmal später nach Hause. Als Kriminalkommissar in Kempten konnte er eben nicht immer pünktlich Feierabend machen. Aber heute? An Heiligabend? Er wusste doch, dass sie immer auf den Friedhof gingen, wenn es dämmerte. Das war fester Bestandteil ihres Weihnachtsrituals: Friedhof, danach bei seinen Eltern Bescherung, zu Hause Kässpatzen, anschließend Geschenke und allgemeine, tief empfundene Freude. Danach eine Runde Plätzle und Glühwein und schließlich mit einem Ächzen wegen des vollen Magens in die Christmette. Ob ihm irgendetwas passiert war? Die Straßen waren schneebedeckt und glatt. Nervös kaute sie auf ihren Fingernägeln herum. Ihr Streit fiel ihr wieder ein. Das war aber auch eine Zumutung gewesen, die sie nicht wortlos hatte hinnehmen können. Bestimmt ein Dutzend Mal hatte sie ihn gebeten, ihn ins Wasser zu stellen. Immer wieder hatte er versprochen, es »gleich morgen, bestimmt« zu erledigen. Als er den Christbaum, den sie schon Ende November so billig im Baumarkt erstanden hatten, nach seinem alljährlichen Heiligabend-Vormittag in der Stadt – an dem er, das wusste sie, auch wenn er es nie sagte, immer noch ihr Weihnachtsgeschenk besorgte – aus der Garage geholt hatte, um ihn zu schmücken, hatten sie die Bescherung gehabt: Wie immer hatte sie gespannt gewartet, bis er das Netz aufschneiden würde, das die Äste zusammenhielt, hatte sich auf den großen Moment der Enthüllung und den sicherlich schönen Baum gefreut. Doch was dann passiert war, hatte ihr die Tränen in die Augen getrieben: Als die Äste mit einem Schnalzen nach außen schnellten, erhob sich ein leises Prasseln, und einen Atemzug später war das Wohnzimmerparkett von Tannennadeln übersät, während vom Baum nur noch ein dürres, braunes Gerippe mit ein paar traurigen Nadeln übrig geblieben war. Man müsste ihn nur geschickt drehen, dann würde er wie neu aussehen, hatte Kluftinger nach ein paar Sekunden ungläubiger Stille noch versichert. »Entweder dieser Baum oder ich«, hatte Erika darauf mit zitternder Stimme geantwortet. Ein Satz, der ihr jetzt schrecklich leidtat. Wenn bloß nichts passiert war. Vielleicht hatte sie ja auch überreagiert. Wenn er nur käme. An Weihnachten mussten doch alle zusammen feiern. Notfalls auch ohne Christbaum.
     
    »Glauben Sie mir, ich bin ein Kollege!«
    »Natürlich, Herr Kollege. Drum haben wir Sie auch mit einer Axt und einer Tanne im Schlepptau nachts im Wald aufgegriffen. Da treffen wir Polizisten uns ja regelmäßig.« Die zwei Beamten sahen sich an und grinsten. Der

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