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Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte

Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte

Titel: Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicole Joens
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einem Frauenvornamen: »Esther«. Kein Nachname steht dort, aber das Geburtsjahr der Toten, 1925. Joe weiß von keiner Esther, die im Zweiten Weltkrieg zu Santa Lucia mit achtzehn an einem Unfall starb. In Joes Kindheit hatten jeden Sommer in dem Marterl an einem bestimmten Tag frische Blumen gestanden. Er erinnert sich auch daran, dass Tante Sigrun einmal darauf bestanden hatte, den Pfosten zu erneuern, nachdem er bei einem Unwetter gebrochen war. Es sei wichtig, sich an diese Esther zu erinnern, weil sie eine jüdische Musikerin gewesen sei, eine der Ihren. Einige Tropfen Blut aus Joes Nase landen auf dem Gekreuzigten. Unwirsch wischt Joe sie weg und will aufstehen. Aber er kann nicht. Schmerz durchzuckt seinen Knöchel. Er muss ihn sich beim Fallen verletzt haben. Mit tauben Fingern versucht er seinen Schnürstiefel und seinen Socken auszuziehen, um nachzusehen, wie schlimm es ist. Aber seine Finger sind vor Kälte stocksteif, und die Schnur ist am Leder festgefroren. Nachdem Joe endlich seinen Socken ausgezogen hat, kühlt er die Schwellung vorsichtig mit Schnee. Erst jetzt merkt er, wie jämmerlich er friert. Durch seine Körperwärme ist der Schnee unter seiner Jeans zu nassem Matsch geschmolzen, und er ist bis auf die Unterhose durchnässt. Unkontrolliert klappern seine Zähne. Durch den Alkoholnebel hindurch wird Joe klar, dass er bereits unterkühlt sein muss. Er kann kaum noch seine Finger bewegen, und ihm fehlt die Kraft, aufzustehen. Auch bei einem weiteren verzweifelten Versuch gelingt es ihm nicht. Der Fuß tut zu weh. Joe trinkt mit tiefen Zügen aus der Flasche, um den Schmerz zu betäuben, doch mitten in seinem Dilemma grinst er plötzlich. Dorftratsch auf Wochen gäbe es, wenn man ihn erfroren finden würde, mit einer Flasche Schnaps und blutiger Nase vor Esthers altem Marterl. Obwohl schon fast dunkel, sieht Joe nach all den Jahren einen Rest Blattgold an dem ausgemergelten Körper des fein gearbeiteten Gekreuzigten schimmern. Mit steifgefrorenen Fingern fährt er über Jesus’ dürren, geschundenen Brustkasten und denkt daran, wie tief er seit Rosemaries Tod mit seinem Glauben gehadert hat. Joes Stimme ist kaum hörbar vor Kälte und Schmerz.
    »Mir zwoa ham fei no a Rechnung offen …«
    Anna-Sophie steht am Fenster und sieht nach draußen in die Nacht, um rechtzeitig den Todesengel zu entdecken, sodass Oma Hilla ihr Schutzgebet sprechen kann. In manchen Nächten, hatte die Oma ihr gerade erzählt, fliegt der Todesengel besonders tief, obwohl er eigentlich gar niemanden abholen soll. Aber bisweilen, wenn es hier im Tal stürmt oder die alten Berggeister aufwachen und an vergangenes Unrecht erinnern, fliegt der Todesengel auch ohne Gottes Auftrag und rupft einen ungeschützten Menschen mitten aus dem Leben. Dieser arme Mensch muss dann für alle Ewigkeit mit den Geistern sein Unwesen treiben. Dagegen helfen die Schutzgebete, auch wenn man, so wie Anna-Sophie, gar nicht getauft ist. Anna-Sophie versucht sich an die Worte zu erinnern, die Hilla ihr gerade beigebracht hat, aber sie weiß nur noch, dass man mit der Gottesmutter sprechen muss. Sie sieht ehrfürchtig zu Hilla hinüber, die gerade dabei ist, Papagenas Arm wieder fest anzunähen, und denkt an Hillas viele kleine Engelskinder. Das waren keine, die der Todesengel nur so geholt hat, sondern genau wie Mama und Papa müssen sie Gott in den Himmeln helfen, weil so schrecklich viel auf der unordentlichen Welt zu tun ist. Anna-Sophie erschrickt. Sie hört, wie die Eingangstür quietscht, und rechnet damit, den Todesengel in seinem schwarzen Kleid zu sehen.
    »Hallo! Frau Stadler? Ich suche nach Miriam Bechow!«
    Kurz darauf steht eine Frau mit drahtigen Igelhaaren, die ihr nach allen Seiten vom Kopf stehen, in Hillas Küche. Die Igelfrau stellt sich als Hebamme Wanda aus Erding vor und schüttelt Anna-Sophie die Hand. Es ist eine gute Hand, warm und voller Leben, sodass das kleine Mädchen spontan Erleichterung verspürt.
    Es ist jetzt finsterste Nacht. Der Cowboy im Schnee bringt in seinem zitternden Zwiegespräch mit Jesus kaum mehr einen hörbaren Ton raus, weil seine Zahnreihen im Dauerstakkato aufeinanderklappern. Aber stärker noch als das beißende Gefühl der Kälte ist in diesem Moment seiner Abrechnung mit Gottes Sohn Joes unglaubliche Wut. Sein Zorn hat sich in den letzten zwölf Jahren in einen Hass verwandelt, weitaus stärker als Joes Selbsterhaltungstrieb. Der Alkohol tut den Rest. Joe gibt sich auf. Mit letzter Kraft zieht er

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