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Mariana

Mariana

Titel: Mariana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monica Dickens
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und sie rieb ständig an der Scheibe, damit sie nicht beschlagen konnte. Ein schwacher Schimmer erschien an der Wand des Tunnels, verstärkte sich und ließ im einfallenden Tageslicht für einen Augenblick eine Ziegelmauer erkennen, dann wurde der dumpfe Lärm heller, und vom Sonnenlicht geblendet waren sie draußen. Und da stand es! Das weiße Westbury-Pferd — auf der Anhöhe so nah am Zug, daß man es ganz verzerrt und in die Länge gezogen sah, wenn man zu ihm hinaufblinzelte. Es war nett von dem Pferd, so nahebei zu stehen, denn jetzt wußte man: nur noch eine dreiviertel Stunde bis Taunton.
    Kurz danach verlangsamte der Zug sein Tempo. «Frome», sagte der jüngere Mann im Abteil — es war das erste Wort, das er seit der Abfahrt von der Paddington-Station gesprochen hatte. Komisch, daß er nicht wußte, daß es «Frume» ausgesprochen wurde, dachte Mary mitleidig, noch dazu, wo er dort offenbar aussteigen wollte. Er und seine Frau begannen Koffer und Schirme aus dem Gepäcknetz zu zerren. Auch der alte Herr schien auszusteigen, denn er fischte unter seinem Sitz nach seiner Reisetasche. In Frome hielt ihn Mrs. Shannon noch auf dem Bahnsteig fest, weil ihr immer noch etwas einfiel, was sie ihm mitteilen wollte. Dann tauschten sie ihre Visitenkarten aus, und als der Zug schließlich abfuhr, hatten sie sich, ungeachtet der Entfernung zwischen West Kensington und Somerset, ein Wiedersehen versprochen.
    Jetzt konnte Mary ihre Füße auf den gegenüberliegenden Sitz legen, ihre herabbaumelnden Beine waren schon ganz unruhig und zapplig, und nach kurzer Zeit — so erschien es ihr wenigstens — sagte ihre Mutter: «Setz dir ruhig schon den Hut auf, Kind», und begann, die Vorbereitungen für das Aussteigen zu treffen. Mit Herzklopfen sah Mary die ersten Häuser der Vorstadt vorbeifliegen, während sie die Kniffe aus ihrem runden Hut strich, der aussah, als ob sie auf ihm gesessen hätte. Sie stülpte ihn auf den Hinterkopf, schnipste das Gummiband unters Kinn und zog ihre hellbraunen, wollenen Handschuhe an. So gekleidet, kam sie sich geradezu elegant vor und saß nun, die Hände sittsam auf dem Schoß, fiebernd vor Aufregung auf ihrem Platz.
    Der Zug verringerte allmählich immer mehr seine Geschwindigkeit und hielt schließlich fauchend und zischend am Bahnsteig von Taunton, auf dem ein harmlos munteres Treiben herrschte. Mrs. Shannon war noch dabei, sich den Staub von den Kleidern zu klopfen und ihr kurzes Haar unter den Rand ihres runden Filzhutes zu stopfen, da öffnete Mary schon die Abteiltür und hopste auf den Bahnsteig. Ihre Beine waren ganz steif und kamen ihr beinah so fremd vor wie nach einem Ritt auf ihrem Pony. Sie stand da und wartete auf ihre Mutter; dabei atmete sie, schnuppernd wie ein kleiner Hund, die schöne, klare Landluft ein und freute sich schon auf den weichen, verschwommenen Somerset-Dialekt des alten Gepäckträgers, der immer rief: «Bitte die Kehrseite einziehen!»
    Hier ging alles viel gemächlicher zu. Sogar der Zug hatte seine Ungeduld verloren, mit der er auf die Minute genau von der Paddington-Station abgedampft war, und schien ganz zufrieden mit dem Aufenthalt zu sein, während in aller Seelenruhe diverse Gepäckstücke aus ihm ausgeladen oder in ihn hineinverfrachtet wurden. Mary und ihre Mutter gingen nach vorn, um aufzupassen, daß auch ihr Gepäck ausgeladen würde, denn einmal, als sich niemand darum gekümmert hatte, war es ganz friedlich nach Penzance weitergereist. Zu Marys heimlicher Erleichterung bemerkte Mrs. Shannon erst, als der Zug bereits fort war, daß sie ihre Handschuhe im Abteil liegengelassen hatte, und so brauchte Mary nicht zurückzulaufen und unter den Augen ungefällig starrender Leute nach ihnen zu suchen.
    Sie hatten fast eine Stunde Aufenthalt bis zur Abfahrt der Kleinbahn nach Yarde, und wie immer aßen sie während der Wartezeit im Bahnhofsrestaurant zu Mittag. Mrs. Shannon hatte im Lauf der Zeit alle Speisen am Buffet durchprobiert und war zu dem Ergebnis gekommen, daß Biskuits, Milchschokolade und eine Tasse Tee den geringsten Schaden anrichten konnten. Mary nahm immer eine große Wurstpastete, ein Schinkenbrot, zwei Pfannkuchen und einen Krug warmes Ingwerbier, das sie hinterher in der Nase kitzelte. Es machte Spaß, dieses Mittagessen. Mary hielt leidenschaftlich auf Tradition und bestand darauf, daß altehrwürdige Gebräuche Jahr um Jahr eingehalten wurden. Ihre Mutter lachte sie aus und sagte, sie sei ein