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Mariana

Mariana

Titel: Mariana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monica Dickens
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Mary noch klein war, hatte sie entsetzliche Angst vor ihr gehabt. Einmal, als sie nach dem Mittagessen in Großmutters Zimmer schlafen sollte, war sie wach geworden, als sich das gelbliche und immer ein wenig nervös zuckende Gesicht mi t den trüben Augen über sie beugte. Mary hatte einen solchen Schreck bekommen, daß sie jede Beherrschung verlor und stundenlang weinte und schrie. Man mußte ihr Brom geben und sie halb betäubt nach Hause bringen. Niemand hatte erfahren, was Großmutter bei dieser Kränkung empfunden hatte. Da sie sich kaum jemals äußerte, wußte man nie, ob ihr etwas entgangen war, oder ob sie es sich aufhob, um es einem später einmal zu irgendeinem unpassenden Zeitpunkt, etwa beim Jüngsten Gericht, triumphierend vorzuhalten. Sie war nur ein oder zwei Jahre älter als ihre andere Großmutter, aber für Mary konnten sie ebensogut zwei Generationen angehören. Großmama Shannon war zeitlos im Sinne ewiger Jugend, während Großmutter Payne zeitlos erschien, weil sie seit unzähligen Jahren krank und hinfällig war.
    Ihr Sohn und ihre Tochter halfen ihr die Treppe hinunter, Mary folgte mit dem Fußschemel, und es gab — wie Onkel Geoffrey prophezeit hatte — gekochtes Hammelfleisch. Mary sah ihn an, als Großmama sagte: «Würdest du bitte das Fleisch drüben an der Anrichte aufschneiden, Geoffrey», und er zwinkerte ihr mal mit dem einen, mal mit dem anderen Auge zu, denn in Dulwich trug er kein Monokel. Mrs. Shannon sagte munter: «Ach, wie nett, Mama, ich esse doch zu gern ein gutes Stück Hammelfleisch», und machte ihrem Bruder stirnrunzelnd Zeichen. Annie reichte das Gemüse herum mit einer Miene, die deutlich sagte, «nehmt euch oder laßt es bleiben», was die Rosenkohlköpfchen noch vermickerter aussehen und die Kartoffeln noch wässeriger dreinblicken ließ. Das Mahl nahm seinen Fortgang, ungemein beschwingt durch ein Glas medizinischen Gesundheitswein für jeden, der für Mary mit Wasser verdünnt wurde.
    Es hieß in St. Martin’s, wer den Schulfraß essen könne, der könne alles essen, aber Mary fand es trotzdem schwierig, Großmutters Essen hinunterzuwürgen. Mrs. Payne hatte einen guten Appetit, aber sie war nicht wählerisch, und Annie, stets auf ihren Vorteil bedacht, hatte höchstwahrscheinlich ein Provisionsabkommen mit den Geschäftsleuten geschlossen, demzufolge diese im «Lorbeerhain» sämtliche Nahrungsmittel abluden, die sonst niemand mehr haben wollte. Bei dem Hammel heute mittag hatte es sich jedenfalls zweifellos um das hochbetagte Leittier der Herde gehandelt. Zum Nachtisch gab es nicht Reis-, sondern Brotpudding mit ein paar irreführenden Rosinen obendrauf und keiner einzigen innendrin. «Heute gibt es zur Feier des Tages Sahne», sagte Großmutter, aber es war nur die bereits leicht angesäuerte Rahmschicht der Milch.
    Mrs. Payne, die ein ausgesprochenes Einsiedlerdasein führte, las weder Zeitungen, da sie das zu sehr aufregte, noch Bücher von Autoren der letzten fünfzig Jahre, und so gab es für sie keinen anderen Gesprächsstoff als ihre verschiedenen Leiden. Mary konnte sich erinnern, daß ihr Großvater auch ewig gejammert hatte. Entweder hatte er sein Bein geschüttelt und geklagt, seine große Zehe wäre eingeschlafen, oder er hatte verlangt, irgend jemand solle fühlen, wie kalt seine Hände seien. In den Pausen, die sie während des geräuschvollen Einnehmens ihrer Mahlzeit einlegte, gab Großmutter einige anschauliche Schilderungen von ihrem Ischias und dem Juckreiz auf ihrer Kopfhaut zum besten, oder sie berichtete, wie ein kalter Luftzug sie unverschämterweise gestreift hatte, als sie ohne ihre Wolljacke draußen war. Ihre Tochter Lily gab sich die größte Mühe, ihr die Neuigkeiten aus der großen Welt zu erzählen, aber da sich ihre Mutter schon seit langem von allem zurückgezogen hatte, interessierte sie das kaum. Onkel Goeffrey sprach fast überhaupt kein Wort, lediglich beim Anblick des Brotpuddings fragte er, ob kein Käse da wäre.
    Wenn Großmutter weder aß noch redete, dann hatte sie die unangenehme Gewohnheit, alle genau zu beobachten. Als Mary einmal von ihrem blaßrosa Getränk aufsah, sah sie die tief unter den Lidern versteckt liegenden Augen so durchdringend auf sich ruhen, als könne Großmutter jeden ihrer Gedanken lesen. Mary lächelte unsicher, und Großmutter sagte, ohne den Blick von ihr abzuwenden: «Ich glaube, die Fliegen sind in diesem Sommer noch schlimmer als sonst.»
    Es war unheimlich, daß man nicht wußte, ob sie

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