Mariana
Mann der Ersten zu sein, außerdem war er noch der Box-Champion der Schule im Mittelgewicht. Seit jenem ersten zaghaften Kuß auf dem Dachboden hatte er sich Mary gegenüber sehr zurückhaltend gezeigt. Das erschien ihr auch ganz richtig so, denn Küssen, das wußte sie, war unangenehm und unhygienisch. Der Fahrstuhlboy in Clifford Court hatte, kurz bevor er wegen eines Überfalls auf ein kleines Mädchen im Barnes Park verurteilt wurde, mal versucht, sie im Fahrstuhl abzuschlecken, und sie hatte sich geschworen, niemals — solange sie lebte — jemanden zu küssen, auch Denys nicht.
Sie begleitete ihn nie, wenn er auf Kaninchenjagd ging, denn sie haßte es, wenn ein Kaninchen getötet wurde, und er haßte es, jemand dabeizuhaben, der jedesmal, wenn er danebenschoß, «Bravo» rief. Er nahm lieber Angela mit. Einmal waren sie fast vier Stunden fort, und während dieser Zeit schlich Mary im Garten umher und durchlitt Qualen beschämender Eifersucht. Die Teestunde kam und ging vorüber, und sie hatte sich schon eine tapfere kleine Rede ausgedacht. Sie wollte zu Denys sagen: «Denk nicht an mich. Ich freue mich, wenn du sie liebst», und «ich hoffe, daß wir beide immer gute Freunde bleiben werden». Sie war bereits den Tränen nahe, als Angelas leuchtender Haarschopf endlich über der Parkmauer auftauchte. Als sie Mary oben auf der Terrasse erblickte, winkte sie ihr zu und rannte — ein Kaninchen an den Hinterläufen hin- und herschwingend — über die drei Rasenflächen hinauf.
«Sieh mal hier», schrie sie, «war das nicht gemein von mir? Mir ist ganz elend geworden, als ich’s erwischt hatte. Es war auch mehr ein Versehen, ich kann gar nicht richtig zielen. Was für ein weiches Fellchen es hat.» Sie streichelte bedauernd den erstarrten Körper. «Ach, entschuldige, ich hab nicht dran gedacht, daß du das nicht sehen kannst.» Sie ließ sich neben Mary auf die Steinbank plumpsen, streckte ihre langen, braunen Beine von sich, und gemeinsam beobachteten sie, wie Denys langsam herauf kam. Er trug drei weitere Kaninchen und sah, mit dem Gewehr über der Schulter, sehr männlich aus.
«Ich freue mich, wenn ihr euch gut unterhalten habt», sagte Mary großmütig und hoffte nur, daß sie nicht anfangen würde zu weinen.
«Zu schade, daß du nicht mit warst», sagte Angela, «Denys hat das auch gesagt. Ich wollte, ich hätte so einen Vetter. Meine Vettern behandeln mich schlimmer als eine Schwester. Du bist ein richtiger Glückspilz. Und so ein prima Fleckchen hier zu haben, wo du hinkommen kannst, wann du willst. Wenn meine Familie aufs Land fährt, kommt sie höchstens bis Sunningdale.»
Denys sprang auf die Terrasse und warf Mary die Kaninchen vor die Füße. «Na, was sagst du zu der Beute?» fragte er nicht ohne Stolz, und als sie bewundernd zu ihm aufblickte und ihm zulächelte, warf die Abendsonne mit einem letzten Aufleuchten einen grotesk geformten, überlangen Schatten von ihm auf die Terrasse und tauchte alles in ein wundervolles, bernsteinfarbenes Licht.
Der Winter 1931 — Mary war jetzt sechzehn Jahre — brachte fünf Ereignisse.
Das erste war: Sie fing endlich an zu wachsen. Ursprünglich die Kleinste in der Klasse, schob sie sich nun in der Reihe, in der sie beim Turnen Aufstellung nahmen, immer mehr an die Spitze. Die Busschaffner redeten sie nicht mehr mit «Na, Kleine» an, und alle Kleider mußten mit einem breiten Saum, den man auslassen konnte, gekauft werden. In ihren Schulzeugnissen stand: «Obwohl Marys Gemeinschaftssinn noch immer zu wünschen übrig läßt, so nimmt sie doch in steigendem Maße am Geschehen des Schullebens teil, und wir hoffen, daß die verhältnismäßig hohe Rangstufe, die sie in der Schule innehat, jenes Verantwortungsgefühl in ihr wecken wird, das für jedes nützliche Mitglied der Gesellschaft von größter Wichtigkeit ist.»
In Angelas Zeugnissen stand nach wie vor: «... trägt allzu deutlich ihre Mißachtung jeglicher Autorität zur Schau» oder «ihr Temperament verleitet sie oft zu höchst bedauerlicher Eigenmächtigkeit».
Mary hielt sich jetzt für erwachsen. Ihre Hauptfrage zu Hause war: «Mami, wann kann ich mir die Haare abschneiden lassen?»
«Warte, bis du mit der Schule fertig bist, und dann probiere erst mal, wie du aussiehst, wenn du sie dir hochsteckst», antwortete Mrs. Shannon.
«Und wann bin ich mit der Schule fertig?»
«Wenn du die Zulassung für die Universität hast.»
«Dann kannst du auch gleich sagen, nie! Mami, muß ich wirklich
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