Mariana
Augen; seine weißen Flanellhosen weigerten sich standhaft, mehr als die Hälfte seines Bauches zu bedecken. Er war jedoch nicht immer anwesend, denn selbst sonntags war er oft damit beschäftigt, Geld zu verdienen. Sein Beruf hatte, wie Angela geringschätzig zu bemerken pflegte, «irgendwas mit Reklame zu tun». Wenn er nicht in seinem großen schwarzen Chrysler durch die Gegend brauste, schloß er sich mit einem Tablett voller Bierflaschen und Sandwiches in seinem Arbeitszimmer ein, und wenn die Mädchen an seiner Tür vorbeigingen, hörten sie ihn mit Stentorstimme telefonieren.
Aber es gab auch die gräßlichen Sonntage, an denen Mrs. Shannon Mary zum Essen zu ihren Großeltern nach Dulwich mitnahm. Wenn Onkel Geoffrey keine stichhaltige Ausrede einfiel, mußte er ebenfalls mit.
«Mein Leben zwischen zwei Welten», sagte er zu Mary, als sie beide eines Morgens mißmutig im Bus nebeneinandersaßen, während Mrs. Shannon auf dem Platz hinter ihnen munter drauflos plauderte, «oder: , Drama von Mary Shannon.»
«Letzten Sonntag», sagte Mary verträumt, «gab es Hummer, Geflügelsalat und dann Schokoladeneis.»
«Und diesen Sonntag», sagte Onkel Geoffrey, «das kann ich dir versprechen, gibt es Hammelfleisch und Gemü-ü-üse», wobei er das <ü> boshafterweise ganz gedehnt sprach, «dazu halbgare Kartoffeln, kalte Sauce und, wenn du großes Glück hast, als Nachtisch einen tollen Reispudding mit Rosinen. Genau das richtige Essen für einen heißen Tag.»
«Laß das, Geoffrey», sagte seine Schwester, «sie macht schon Schwierigkeiten genug, wenn es sich um die Besuche bei Mama handelt, du brauchst sie nicht zu unterstützen.»
«Ha», machte er und hüllte sich wie ein beleidigter Schuljunge in Schweigen. Als sie von der Bushaltestelle den Hügel hinaufwanderten, sagte Mrs. Shannon wie stets: «Erinnerst du dich, wie müde wir waren, wenn wir nach der Schule hier hinaufkrochen, Geoff? Ich glaube, das war ziemlich grausam für uns Kinder. Unsere armen kleinen Beine.»
Sie keuchten weiter, an den großen, trübselig aussehenden Häusern von Clarice Hill vorbei, von denen man sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, daß jemals junge Menschen darin gelebt hatten, und bogen in das Tor ein, das nicht zu verfehlen war, denn der Putz an den Pfeilern war der schmutzigste in der ganzen Straße.
«Schatten meiner Kindheit», bemerkte Onkel Geoffrey, als sie in dem Halbrund der Lorbeerbäume zur Eingangstür schritten, «die Schatten des Gefängnisses greifen nach mir —» fügte er hinzu, als ihnen die wie immer total erschöpfte Annie die Tür öffnete und sie in den dunklen, langen Korridor der Villa traten.
Für Mary waren alle Orte mit ganz bestimmten Gerüchen verbunden: da war zum Beispiel der Charbury-Geruch, der Clifford Court-Geruch, der Geruch des Raumes, in dem sich die Mädchen in St. Martin’s umzogen, der Geruch nach frischer Farbe und exotischen Blumen in der großen Halle im Hause der Shaws. Der Geruch, der einem in der Diele des großmütterlichen Hauses entgegenschlug, gehörte zu den abscheulichsten in ihrer Sammlung.
Es war ein Gemisch von muffigen Kleidern und Essen. Aber nicht etwa von Speisen, die gerade zubereitet wurden, wie vielleicht der Duft eines leckeren Bratens, der einen appetitanregend empfing, wenn man hungrig hereinkam, nein, es war der abgestandene, schale Gestank längst verzehrter Kohlsuppen oder Eintopfgerichte, der aus Küche und Eßzimmer gedrungen kam und das ganze Haus verpestete.
Mrs. Payne empfing sie im Wohnzimmer. Obwohl es viel zu groß war, hatte sie darauf bestanden, es weiterhin zu bewohnen, und Annie, ebenso starrköpfig, weigerte sich, im ganzen Raum Staub zu wischen. So hatten sie einen Kompromiß geschlossen: die hintere Hälfte des Zimmers wurde mit Schonbezügen und Zeitungspapier zugedeckt, und nur die vordere Hälfte wurde benutzt. Ob Annie sich Großmutters nachlassende Augenschärfe zunutze machte oder nicht, Mary kam es jedenfalls so vor, als ob der bewohnte Teil jedes Mal etwas kleiner geworden wäre, so, als ob die Schonbezüge wie ein Lavastrom immer näher kröchen und unmerklich alles überfluteten, bis eines Tages die armselige alte Dame in ihrem Gobelinsessel auch nur noch eine gespenstisch anmutende, mit Leinwand zugedeckte Erhebung sein würde.
In Großmutters Haus kamen ihr immer unheimliche Gedanken, und auch in Großmutters Gegenwart fühlte sie sich nicht sehr behaglich. Als
Weitere Kostenlose Bücher