Mariana
mal dem Idealbild eines englischen Lords, wie ihn sich mein zukünftiger Brötchengeber vorstellt. Na, und sollte ich ihm das vielleicht ausreden? Steh auf, Kleines, ich muß schnell mal zu der blonden Kellnerin im rübergehen und ihr schonend beibringen, daß sie im Begriff ist, ihren besten Kunden zu verlieren.»
Erst am Tage seiner Abreise wurde Mary klar, wie sehr sie an ihm hing. Sicher, manchmal hatte sie sich über ihn geärgert, er war unzuverlässig, unordentlich und entsetzlich faul, aber alles in allem doch ein furchtbar lieber Kerl. Er hatte immer wieder neue, reizende und übermütige Einfälle. Einmal kam er mit einer Flasche Champagner und einem Hühnchen nach Haus — irgendeinen Vorwand zum Feiern fand er immer — , ein andermal war er total übergeschnappt und hatte zur Premiere eines musikalischen Lustspiels eine ganze Loge genommen, dabei belagerte sein Schneider praktisch die Haustür, um ihm zum unwiderruflich letzten Mal die Rechnung zu präsentieren. Er war seit so vielen Jahren der Herr im Hause gewesen, daß man sich das Leben ohne ihn gar nicht vorstellen konnte. An dem Morgen, an dem er abreiste, drohte sich Marys Tränenstrom über die scheußlichen Karos seines neuen Mantels zu ergießen.
«Na, na, ich bitte mir mehr Haltung aus», sagte er. «Weißt du was, Kleines, wenn alles gutgeht, schicke ich dir ein Telegramm, dann kommst du nach und wirst drüben ein Star.» So verwirrend Mary diese Idee auch fand, so hielt sie ihre Verwirklichung noch durchaus für möglich. «Und diese rothaarige Freundin von dir, die kannst du für mich aufheben», fuhr Onkel Geoffrey fort, «du hast mir ja mal einen Korb gegeben, wenn ich mich recht erinnere, aber ich glaube, sie wird mich nicht so von oben ‘ herab behandeln, wenn sie erfährt, daß ich Giorgio Pimento, der Casanova der Leinwand bin.»
«Ich bringe dich zum Bahnhof», verkündete Mary plötzlich.
«Ausgeschlossen, mein Hase», sagte ihre Mutter, «es ist sowieso schon reichlich spät für die Schule. Um Gottes willen, ist das schon spät. Ich muß machen, daß ich wegkomme. Geoffrey, ich muß gehen. Ich will nicht gleich zu Anfang bei der alten Schachtel einen schlechten Eindruck machen.» Schweren Herzens riß sie sich los und stürzte in fliegender Eile davon zur South Molton Street. Onkel Geoffrey verabschiedete sich von ‘ dem verwitweten alten Wellensittich, gab dem Portier ein für diese Gegend sagenhaft hohes Trinkgeld und fuhr mit seinem bunt durcheinandergewürfelten Gepäck davon. Schuldbewußt, aber entschlossen blieb Mary an seiner Seite.
Auf dem Bahnhof zeigte er sich ganz als Mann von Welt, und während er vor der Gepäckaufgabe auf und ab schlenderte und mit seinem Stock in der Gegend herumfuchtelte, stürzte Mary davon und kam mit einer Nelke zurück. «Eine rote habe ich leider nicht bekommen», keuchte sie, «tut es eine rosa auch?»
«Sieht ein bißchen weibisch aus, was?» sagte er, während sie ihm die Nelke ins Knopfloch steckte. Er hatte sein Monokel eingeklemmt, beäugte alle Frauen, die vorbeigingen, und fragte sich, ob sie vielleicht mit demselben Schiff fahren würden wie er. Als er sich aus dem Abteilfenster lehnte und Mary, die plötzlich ganz verlegen war, sich auf dem Bahnsteig die Strümpfe hochzog, sagte er: «Es war reizend von dir mitzukommen, Frosch, aber jetzt geh lieber. Diese Warterei, bis ein Zug abfährt, ist eine Tortur. Man steht herum und sagt nur dummes Zeug — oder .»
«Nein, nein, ich muß noch sehen, wie der Zug abfährt.» Zur Schule kam sie sowieso zu spät, da kam es auf ein paar Minuten nicht mehr an. «Vergiß nur die Autogramme nicht», sagte sie zum sechsten Mal.
Kurz vor Abfahrt des Zuges erschienen vier oder fünf seiner Freunde und Freundinnen mit viel Getöse auf dem Bahnsteig, und Onkel Geoffrey mußte wieder aussteigen. Sie klopften ihm alle gleichzeitig auf die Schulter, schrien auf ihn ein und machten ihre Witze. Der Zug setzte sich in Bewegung.
«Na, wie ist es?» fragte der Gepäckträger, «fährt von den Herrschaften eigentlich jemand mit?» Onkel Geoffrey schob die anderen beiseite und sauste auf Mary los, die schüchtern im Hintergrund stand. Er gab ihr einen Kuß und war mit einem Hechtsprung im Wagen, wobei er sich bei einer wütenden Frau mit Veilchen am Hut und am Mieder entschuldigte. Der Zug fuhr schneller und immer schneller, und weg war er, der liebe,
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