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Marias Testament

Marias Testament

Titel: Marias Testament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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erkennen, so wie sie ihn jetzt erkannten. Um ihres Bruders willen sagte sie ihm mit einfachen, lauten Worten, die Arme weit ausgebreitet, dass er der Sohn Gottes sei.
    Als Martha Maria fand, die zum Grab zurückgekehrt war, um daselbst zu weinen, begab auch diese sich zu meinem Sohn und sagte ihm, dass er die Macht habe. Als sie weinte, weinte auch er, denn er hatte Lazarus sein Leben lang gekannt und hatte ihn lieb gehabt so wie wir alle, und er kam mit ihr zum Grab, das frisch mit Erde bedeckt war, und dort ertönte ein Gemurmel aus der Menge, die ihm gefolgt war, und Einzelne schrien, dass, wenn er doch die Kranken heilen und die Krüppel gehend und die Blinden sehend machen könne, er auch fähig sei, die Toten zu erwecken.
    Er stand eine Zeitlang schweigend da, und dann gab er mit einer Stimme wie ein Flüstern Befehl, das Grab zu öffnen, während Martha – jetzt schreiend in der Angst, das, was sie erfleht hatte, könnte in Erfüllung gehen – rief, sie hätten schon genügend gelitten und der Leichnam würde stinken und verwesen nach dieser Zeit unter der Erde, aber mein Sohn beharrte darauf, und die Menge stand da und sah zu, wie das Grab geöffnet und die weiche Erde von Lazarus’ Leichnam gehoben wurde. Als der Leichnam sichtbar wurde, wichen die meisten Umstehenden voll Grauen und Furcht zurück – alle außer Martha, Maria und meinem Sohn, der die Worte ausrief: »Lazarus, komm heraus!« Und nach und nach trat die Menge wieder näher an das Grab, und das war der Augenblick, wo der Vogelgesang verstummte und sich die Vögel aus der Luft zurückzogen. Martha glaubte außerdem, dass in dem Moment die Zeit stillgestanden hatte, dass während dieser zwei Stunden nichts wuchs, nichts geboren wurde oder entstand, nichts starb oder in irgendeiner Weise welkte.
    Langsam begann sich die lehmbeschmierte und mit Grabtüchern umwickelte Gestalt in dem Raum, den sie ihr frei geschaufelt hatten, mit großer Unsicherheit zu regen. Es war so, als schiebe die Erde Lazarus von hinten hoch und lasse ihn dann in großer Vergessenheit reglos liegen und stieße ihn dann wieder an, wie ein seltsames neues Geschöpf, das dem Leben entgegenzuckte und sich wand. Er war mit Laken gebunden und sein Angesicht verhüllt mit einem Tuch, und jetzt krümmte er sich, wie ein Kind in der Frische des Schoßes, da es weiß, dass seine Zeit dort abgelaufen ist und es sich in die Welt hinauskämpfen muss. »Löset die Binden und lasset ihn gehen«, sagte mein Sohn, und zwei Männer kamen, zwei Nachbarn, und sie stiegen ins Grab, während die Umstehenden in atemlosem Staunen und Schrecken zusahen, wie sie Lazarus hoben und ihn dann losbanden. Er stand auf mit nichts als einem Schurz um seine Lenden.
    Der Tod hatte ihn nicht verändert. Sobald sich seine Augen öffneten, starrte er mit einem Ausdruck tiefer, unirdischer Verblüffung in die Sonne und dann in den Himmel, der sie umgab. Die Volksmenge schien er nicht zu sehen; Geräusche kamen aus ihm, nicht eigentlich Worte, etwas, das eher wie geflüsterte Schreie klang, oder ein leises Wimmern, und dann teilte sich die Menge, und Lazarus schritt durch sie hindurch, an ihr vorbei, ohne jemanden anzusehen, von seinen Schwestern zurückgeführt zu ihrem Haus, während die Welt ringsum stumm und reglos blieb, und auch mein Sohn, so erzählte man mir, stumm und reglos war, als Lazarus anfing zu weinen.
    Zunächst bemerkten sie nur die Tränen, aber dann ertönte sein Weinen stockend wie Geheul, während seine zwei Schwestern ihn sanft auf das Haus zu führten, über den Pfad bei den Zitronenbäumen, durch den Orangenhain, den ganzen Weg über gefolgt von der schweigenden Menge, während das Geheul lauter und erbitterter wurde. Als sie endlich ihre Haustür erreichten, konnte er kaum noch gehen. Sie verschwanden im Haus und schlossen die Läden gegen die sengende Sonne und ließen sich an dem Tag nicht mehr blicken, trotz der wartenden Menge, die Stunde um Stunde selbst noch nach Einbruch der Dunkelheit ausharrte, ja manche sogar die ganze Nacht hindurch, und selbst noch als der Morgen kam.
    *
    In diesen ersten Tagen herrschte eine seltsame Atmosphäre in Kana. Mir fiel auf, dass die Stände mehr Waren im Angebot hatten als jemals zuvor, und nicht nur Lebensmittel und Kleider, sondern auch Küchenutensilien und Türschlösser. Und es gab Tiere zu kaufen – Affen, prächtige Vögel wie aus dem Urwald, rot und gelb und blau gefärbte Geschöpfe von einer Leuchtkraft, wie ich sie noch nie gesehen

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