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Marias Testament

Marias Testament

Titel: Marias Testament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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uns, weiß, was als Nächstes geschehen wird. Es ist von einem Aufstand gegen die Römer die Rede, oder einem Aufstand gegen die Lehrer. Manche sagen, dass die Römer die Lehrer stürzen wollen, und andere, dass die Lehrer hinter allem stecken, aber es besteht auch die Möglichkeit, heißt es, dass es gar keinen Aufstand geben wird, oder aber dass es einen gegen alles geben wird, was wir bis dahin kannten, einschließlich des Todes.«
    Sie wiederholte die Worte »einschließlich des Todes«. Die Wucht ihrer Worte hielt mich im Bann.
    »Einschließlich des Todes«, sagte sie noch einmal. »Lazarus könnte lediglich der Erste gewesen sein. Aber er ist jetzt am Leben, in seinem eigenen Haus, und ich kann dir schwören, dass er vor einer Woche tot war. Es könnte genau das sein, worauf wir gewartet haben, und das wäre der Grund, warum die Volksmenge hierhergekommen ist und nachts Männer schreien.«
    *
    Am nächsten Morgen in der Küche erhielten wir die Nachricht, dass Martha, Maria und Lazarus zuerst zu Mirjams Haus kommen und uns dann zum Festessen begleiten würden. Lazarus sei noch schwach, sagte man uns, und seinen Schwestern sei bewusst geworden, wie sehr sich die Leute vor ihm fürchteten. »Er lebt mit einem Geheimnis, das keiner von uns kennt«, sagte Mirjam. »Sein Geist hatte Zeit, in der anderen Welt Wurzeln zu schlagen, und die Leute fürchten sich vor dem, was er sagen könnte, dem Wissen, das er preisgeben könnte. Seine Schwestern möchten nicht mit ihm allein zur Hochzeit gehen.«
    Ich kleidete mich sorgfältig an. Der Tag war heiß, und das Innere des Hauses war verdunkelt. Wir bewegten uns langsam durch die dicke, feuchte Luft. Mehrmals fanden Mirjam und ich uns allein miteinander im Hauptzimmer des Hauses wieder, befangen, aber unfähig, uns von unseren Stühlen zu rühren oder ein Wort zu sagen. Wir warteten beide auf die Ankunft der Besucher. Ein paarmal wechselten wir, als wir Geräusche hörten, unruhige, furchtsame Blicke. Keine von uns beiden wusste, was geschehen würde, wenn Martha und Maria ihren Bruder in dieses Zimmer führten. Und wie die Zeit verging, wurden wir immer gespannter. Schließlich, in der Stille und der Hitze und dem Schweigen, schlief ich ein, und als ich aufwachte, stand Mirjam über mir und flüsterte: »Sie sind da. Sie sind endlich angekommen.«
    Die Schwestern erschienen mir schöner, als ich sie je gesehen hatte. Durch die Feierlichkeit, mit der sie in die Enge des Zimmers traten und näher kamen, wirkten ihre Gestalten bedeutend, erhaben und unendlich würdevoll. Es war so, als wären sie durch das, was sie durchlebt hatten, gezeichnet und zu etwas Besonderem geworden, es äußerte sich in ihrer Gefasstheit, dem tiefen Ernst, mit dem sie lächelten. Als sie beide auf mich zukamen, begriff ich, dass ich in ihrer Vorstellung mit dem verknüpft war, was sich zugetragen hatte, und dass sie mich berühren, mich umarmen, mir danken wollten, als habe ich irgendetwas mit der Tatsache zu tun, dass ihr Bruder am Leben war.
    Ihr Bruder blieb in der Tür stehen und trat dann leise ins Zimmer. Als er seufzte, umringten wir ihn alle, und da geschah es, genau dann: Da bot sich die Gelegenheit, und es war die einzige Gelegenheit, die ich hatte – und möglicherweise auch die einzige, die überhaupt jemand jemals haben würde –, ihn zu fragen. Das Halbdunkel des Zimmers, die Reglosigkeit der Luft und die Tatsache, dass wir alle, wir vier Frauen, zu schweigen wissen würden, trug dazu bei. Es gab ein paar Sekunden, in denen jede von uns ihn nach der Höhle voller Seelen hätte fragen können, in der er gewesen war. War es ein Ort undurchdringlicher, alles verschlingender Dunkelheit, oder gab es da Licht? Ein Ort des Wachens oder der Träume, oder des Tiefschlafs? Gab es dort Stimmen, oder war es die reine Stille, oder irgendein anderes Geräusch, wie das Tropfen von Wasser, Seufzer oder Echos? Hatte er jemanden erkannt? Seine Mutter getroffen, die wir alle geliebt hatten? Hatte er sich an uns erinnert, während er an dem Ort, wo er gewesen war, umherwanderte? Gab es da Blut, Schmerzen? War es eine Landschaft von stumpfen, verwaschenen Farben oder eine rote Weite mit Klippen oder Urwäldern, oder Wüsten, oder ausuferndem Nebel? Fürchtete man sich dort? Wünschte er sich, dorthin zurückzukehren?
    Lazarus stand im verdunkelten Raum und seufzte noch einmal, und etwas war zerbrochen, die große Gelegenheit war uns entschlüpft und würde vielleicht nie wiederkommen. Mirjam fragte

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