Marias Testament
ihn, ob er Wasser wollte, und er nickte. Seine Schwestern führten ihn zu einem Stuhl, und er saß allein da, vollkommen isoliert. Er schien tief in sich hineinzuhören auf der Suche nach irgendeiner sanften Energie, die ihm gelassen worden war und die ihn, wie seine Schwestern sagten, Tag und Nacht wach hielt.
Er sagte nichts, als wir uns auf den Weg zur Hochzeit machten. Es war schwer, die Augen von ihm loszureißen, wie er von seinen Schwestern gestützt so dahinging, als wäre sein Geist noch immer von der Unerhörtheit seines gewaltigen Todes erfüllt, wie ein Krug randvoll von süßem Wasser. Ich war so damit beschäftigt, ihn zu beobachten und dann zu versuchen wegzusehen, dass ich keinen Gedanken an das verschwendet hatte, was uns erwartete, bis wir uns dem Haus näherten, in dem das Hochzeitsmahl stattfinden würde, und ich eine Menschenmenge sah, die, wie ich wusste, nichts mit der Hochzeit zu tun hatte: Es waren nicht nur die Hausierer und Spieler, die ich bereits gesehen hatte, sondern auch junge Männer in großen Gruppen, und sie alle stritten sich und schrien durcheinander. Als wir näher kamen, traten alle zurück; eine langsame Stille kam über die Menge. Ich dachte zunächst, das wäre nur wegen Lazarus, der noch immer von seinen Schwestern geführt wurde. Doch dann begriff ich, dass das Schweigen auch mir galt, und ich wünschte, ich wäre nicht mitgekommen. Ich fragte mich, woher diese Leute wussten, wer ich war. Dass sie meinetwegen zurücktraten, kam mir fast komisch vor, fast wie im Traum, aber es war nicht komisch, ich erschrak, als ich die Mischung aus Ehrfurcht und Angst in ihren Augen sah, also blickte ich in den Staub und folgte meinen Freundinnen in das Hochzeitstreiben, als wäre ich ein Niemand.
Sofort wurde ich von den anderen getrennt und an einen schattig überdachten langen Tisch geführt, wo man mir einen Platz neben Markus zuwies, der dort auf mich gewartet zu haben schien. Er erklärte mir, er könne nicht bleiben, es sei jetzt zu gefährlich, sich mit uns sehen zu lassen, und er zeigte auf eine Gestalt, die lässig am Eingang stand, einen Mann, an dem wir beim Eintreten vorbeigekommen sein mussten, obwohl ich ihn nicht bemerkt hatte.
»Hüte dich vor dem«, sagte Markus. »Er ist einer der zwei, drei Leute, die sich mühelos zwischen den jüdischen Führern und den Römern hin und her bewegen, dafür wird er bezahlt. Er besitzt Olivenhaine, die sich fast über ein halbes Tal hinziehen, und er hat viele Gehilfen und Knechte und ein sehr luxuriöses Haus. Er hat selten Grund, Jerusalem zu verlassen, außer wenn er seine Ländereien besucht. Er ist ein Mann ohne Skrupel. Er stammt aus einem der armseligsten Dörfer und den bescheidensten Verhältnissen. Seinen Aufstieg verdankt er nicht seinem Verstand, sondern der Tatsache, dass er einen Menschen völlig geräuschlos erwürgen kann, ohne eine Spur zu hinterlassen oder ein Geräusch zu machen. Genau dafür wurde er anfangs eingesetzt, jetzt hat er allerdings andere Aufgaben. Er wird entscheiden, was geschehen muss, und man wird ihm zuhören. Sein Urteil wird unbefangen, erbarmungslos sein. Die bloße Tatsache, dass er hier ist, bedeutet, dass ihr alle verloren seid, wenn ihr nicht mit größter Umsicht handelt. Ihr müsst so bald wie möglich nach Hause zurück. Beide, du und dein Sohn. Du und der, den sie beobachten, ihr müsst euch, noch ehe das Fest beginnt, von hier fortschleichen, und wenn du ihn irgendwie verkleiden kannst, umso besser, aber du darfst mit niemandem sprechen oder stehenbleiben, und dann darf er monate-, vielleicht sogar jahrelang das Haus nicht verlassen. Das ist eure einzige Möglichkeit.«
Markus stand auf und schloss sich einer kleinen Gruppe an einem anderen Tisch an, und ich blieb allein sitzen, nun wissend, dass ich von der Gestalt an der Tür beobachtet wurde, die mir zu jung erschien, zu harmlos, fast unschuldig, ein Mann, dessen schütterer Bart den schmalen Unterkiefer und das schwache Kinn erst seit kurzem zu bedecken schien. Er sah wie jemand aus, der keinen Schaden anrichten konnte – außer vielleicht mit seinen Augen, die eine ganz eigene Weise hatten, sich an etwas oder jemanden zu heften, eine Szene so in sich aufzunehmen, als dürfte er sie nie wieder vergessen, um dann den Blick auf die nächste Szene zu verlagern. Aber es blieb immer ein Tier-Blick, in seinem Gesicht war kein Anzeichen von Intelligenz zu erkennen, nicht einmal Kälte, nur etwas Abwesendes, Passives, Animalisches. Einen
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