Marias Testament
hatte, die eine staunende Menschenmenge anlockten. Und die Standbesitzer und die Menschen auf den Straßen hatten etwas Unbeschwertes, als wäre ihnen eine Bürde genommen worden, und es wurde viel durcheinandergeschrien und gejohlt, und an den Straßenecken standen prustend lachende Gestalten. Selbst in Jerusalem hatte an Markttagen, als ich vor meiner Heirat noch regelmäßig dorthin ging, immer eine ernste Atmosphäre geherrscht: Menschen machten da Geschäfte, die ihr Handwerk verstanden, oder rüsteten sich mit geziemendem Anstand für den Sabbat. Kana aber war voll von erhobenen Stimmen und aufgewirbeltem Staub, listigem Grinsen, dem ungehemmten Gelächter junger Männer, die Luft gellend von Pfiffen und Spottrufen. Sobald wir unsere Besorgungen erledigt hatten, begaben meine Cousine Mirjam und ich uns wieder nach Haus, wo sie mir erzählte, was Lazarus widerfahren war, und dass jetzt niemand mehr an dem Haus vorbeiging, in dem er und seine Schwestern wohnten, sondern alle einen weiten Bogen darum machten, und dass sie glaubte, er hütete in einem verdunkelten Zimmer das Bett, bekäme kaum Wasser hinunter und könnte gerade mal in Wasser eingeweichtes Brot bei sich behalten. Die Horden, sagte sie, waren weitergezogen, gefolgt von einer noch größeren Karawane von Glücksspielern, Händlern, Wasserträgern, Feuerschluckern und Verkäufern von billigen Speisen. Sie alle wurden mit verbissenem Eifer von Amtspersonen beobachtet, die zum Teil verkleidet waren, zum Teil aber ganz unverhohlen folgten und dann rasch nach Jerusalem aufbrachen, um als Erste von einem neuen Ärgernis berichten zu können, einem neuen Wunder, einem neuen Verstoß gegen die große Ordnung, die aufrechterhalten werden musste, um den Römern zu gefallen.
Mirjam hatte meinen Sohn benachrichtigt, dass ich in Kana war, und die Antwort erhalten, er würde zur Hochzeit kommen und sein Platz würde neben seiner Mutter sein. Dann, dachte ich, würden wir sprechen können. Ich blieb ruhig. Müde von meiner Reise, döste ich etwas und schlief dann tief und fest. Ich hörte mir an, wie Mirjam Lazarus’ Geschichte immer wieder erzählte. Ich war bereit, meinem Sohn gegenüberzutreten, und ich war entschlossen, ihn in einem der inneren Zimmer von Mirjams Haus festzuhalten, bis sich die Lage beruhigt, bis sich irgendetwas Neues ergeben hätte, sodass wir still und heimlich nach Nazareth zurückkehren könnten. In der Nacht vor der Hochzeit bemerkte ich, dass die Straßen um Mirjams Haus, in denen nach Einbruch der Dunkelheit normalerweise völlige Stille herrschte, von Schritten und Stimmen hallten. Die ganze Nacht hindurch hörte ich Männer, die sich ohne Furcht bewegten, lachten und redeten oder einander etwas zuriefen, oder sich zum Spaß balgten, oder witzige Streitgespräche führten und dann auf der Straße hin und her liefen.
Außerdem kamen in dieser Nacht, bevor wir zu Bett gingen, Leute ins Haus, die fast platzten vor Neuigkeiten über die Braut, die kostbaren Geschenke, die sie bekommen habe, die Kleider, die sie tragen würde. Viel zu erörtern gab es über die Familie des Bräutigams und deren Uneinigkeit in Fragen des Zeremoniells und der Tradition. Ich sagte nichts, aber ich wusste, dass ich wahrgenommen wurde, und hatte das Gefühl, dass einige nur zu Mirjams Haus gekommen waren, um nach mir zu schielen oder in meiner Gegenwart zu sein. Sobald ich es einrichten konnte, verließ ich das Zimmer und machte mich in der Küche behilflich. Als ich mit einem Tablett zurückkehrte, um leere Becher einzusammeln, blieb ich eine Sekunde lang in der Tür im Schatten stehen, wo niemand mich bemerkte, und hörte Mirjam und eine Frau wieder einmal anderen die Geschichte des Lazarus erzählen.
Als ich genau hinhörte, was sie beide sagten, begriff ich plötzlich, dass keine von ihnen tatsächlich dabei gewesen war. Als ich später Mirjam allein sprechen konnte, fragte ich sie, ob sie an dem Tag persönlich in der Menge gewesen sei, und sie lächelte und sagte nein, aber sie habe von einigen Leuten, die alles miterlebt hätten, die Geschichte in allen Einzelheiten gehört. Als sie daraufhin meine Miene sah, wandte sie sich zum Fenster, schloss die Läden und sprach leise weiter.
»Ich weiß, dass Lazarus gestorben ist. Zweifle nicht daran, dass er gestorben ist. Und dass er vier Tage lang begraben war. Zweifle nicht daran. Und jetzt ist er am Leben, er wird morgen auf der Hochzeit dabei sein. Und alles ist neu und fremd; niemand, nicht einer von
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