Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
hatte angenommen, Antonia sei seine Tochter, die Nachricht, dass sie es nicht war, musste ihn aus dem Haus locken. Von Erpressung war nicht die Rede, also war der Mord offenbar von vornherein geplant gewesen. So weit, so gut. Aber wo lag nun das Motiv für den Mord? Der oder die Vergewaltiger hatten keins. Nicht für den Mord an Körber, höchstens an Lilian selbst. Und es konnte doch nur um Lilian gegangen sein, oder? Liebe, Gier, Rache, das passte alles nicht, verflixt. Frustriert rief sie sich zur Ordnung: Dieser Teil des Falles ging sie nichts mehr an. Ihre einzige Aufgabe bestand darin, Antonias Vater ausfindig zu machen.
Sie hob den Kopf und lauschte. Ihr nächster Mandant war eingetroffen, sie hörte ihn mit Renate sprechen. Ach, und da bog auch Gerrits Wagen in die Auffahrt.
* * *
»Das gibt’s nicht«, sagte Grünberger, »und was haben Sie dann gemacht?«
»Ich hab ihm eine herzliche Ohrfeige verpasst.« Renate Heeren kicherte. »Danach hat er mich nie wieder eines Blickes gewürdigt.«
»Da ist ihm aber was entgangen«, schmeichelte er. »Warum haben Sie ihn nicht angezeigt?«
»Ach was, er war damals schon über achtzig. Sein Alter ist allerdings immer noch kein Hinderungsgrund für ihn, Marilene kann Ihnen das aus leidvoller Erfahrung bestätigen.«
»Ist wahr? Ich werde sie bestimmt danach fragen.«
»Ja«, sann Heeren nach, »in vierzig Jahren erlebt man schon einiges mit den geschätzten Mandanten, das können Sie mir glauben.«
»Gern mehr davon«, log er, »einer guten Geschichte konnte ich noch nie widerstehen.«
»Beim nächsten Mal«, versprach sie, »das wird es doch geben?«
Neugierig bis zum Gehtnichtmehr, dachte er abfällig. »Das hängt leider nicht von mir ab«, behauptete er jedoch, entgegen seiner Gewissheit.
»Sie machen das schon«, versicherte sie, »nur jetzt, glaube ich, lohnt sich das Warten wirklich nicht. Frau Müllers nächster Mandant müsste jeden Augenblick eintreffen. Wollen Sie ihr nicht einfach eine Nachricht hinterlassen?«
»Man wirft mich auf die Straße«, klagte er theatralisch.
»Nicht doch, so war das nicht gemeint.«
»Schon klar«, sagte er. »Wissen Sie was? Lassen Sie mich einfach noch ein wenig hier sitzen. Vielleicht kommt der Mandant ja doch nicht. Ich halte Sie auch nicht länger von der Arbeit ab, versprochen.« Er legte sich die Hand aufs Herz.
»Na gut«, gab sie nach, »ganz, wie Sie möchten.« Sie wandte sich dem Bildschirm zu, steckte sich einen Stöpsel ins Ohr und begann zu tippen.
Er nahm eine Zeitschrift vom Tischchen vor ihm und gab vor, darin zu lesen. Tatsächlich lauschte er angestrengt. Zu schade, dass dieser Raum nicht zur Straße zeigte.
* * *
Marilene stand auf, um Renate zu erlösen und den Mandanten hereinzuholen. Was war das für ein Geräusch? Sie erstarrte mitten in der Bewegung. Es klang bedrohlich, ein dumpfes Grollen, wie von Donner, ein fernes Gewitter, doch das konnte es ja wohl nicht sein, nicht zu dieser Jahreszeit. Irgendeine Maschine wahrscheinlich, sie schüttelte das Unbehagen ab, das sie kurz gestreift hatte, und ging zum Fenster. Ein Laubbläser vielleicht? Nichts zu sehen. Sie wollte sich schon abwenden, überlegte es sich dann doch anders und öffnete das Fenster.
Das Grollen war ein Knurren, erkannte sie nun, ein Hund, und es klang verdammt gefährlich. Hoffentlich war das Vieh angeleint und trug einen Maulkorb, sonst sähe es schlecht aus für die Katze oder was den Unmut des Tiers auch erregt haben mochte. Sie wandte den Kopf nach rechts und zuckte zurück.
Der Hund war in ihrer Einfahrt, verflucht, sie sah nur sein Hinterteil, welcher Idiot – ein Fuß zappelte in ihr Blickfeld, jemand lag da am Boden, oh Gott, »Nein!«, kreischt sie und stolpert rückwärts, sieht sich panisch nach einer Waffe um, irgendwas, womit sie den Hund vertreiben könnte, im Schuppen wäre … nein, das dauert zu lang, mach hin!, treibt sie sich an, schnappt sich den Briefbeschwerer, eine kleine, viel zu kleine Pyramide aus Onyx, und stürmt blindlings hinaus. »Schnell, ruf Polizei und Krankenwagen!«, befiehlt sie Renate, »Hundeattacke!«, weg ist sie, zur Tür hinaus, ihr Atem stockt, doch sie rennt weiter, dieser Hund will nicht spielen, er will töten. Er hat sich in Gerrits linkem Arm verbissen und zerrt daran, als wolle er ihn rausreißen, Blut, viel Blut, und Gerrit ist kreideweiß, plötzlich gibt der Hund den Arm frei, kurz schaut er auf, wie um einzuschätzen, ob von ihr Gefahr droht, er schüttelt sich,
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