Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
jedenfalls eine Welt zusammengebrochen, als sie kürzlich den Brief gefunden hat. Sie hat geglaubt, er habe sie und ihre Mutter verlassen, und sie konnte nicht verstehen, warum. Sie hat ihn sehr geliebt und wollte ihn so gern zur Rede stellen, aber dann wurde seine Leiche entdeckt.«
»Ist der Täter gefasst?«, fragte Tewes.
»Soweit ich weiß, noch nicht«, sagte Marilene zögernd, »aber es kommt noch schlimmer«, warnte sie. »Antonias beste Freundin ist ermordet worden. Antonia hat das alles nicht gut verkraftet und versucht, sich umzubringen. Sie befindet sich zurzeit in einer psychiatrischen Klinik in Behandlung. Ich bin also nicht unbedingt auf dem neuesten Stand«, bekannte sie.
»Und meine Tochter?«
»Ich kenne sie nur flüchtig«, sagte Marilene, mehr würde sie zu dem Thema nicht preisgeben. »Meine Auftraggeberin ist Antonia.«
»Reden Sie ihr das aus, wissen zu wollen, wer ihr Vater ist«, hieß Tewes sie, »das würde sie bloß noch mehr belasten.«
»Möglich, dass ich das mache, trotzdem muss ich wissen, was damals passiert ist.«
»Warum? Reicht es nicht, wenn ich Ihnen versichere, dass das Kind besser dran ist ohne ›richtigen‹ Vater?«
»Nein«, beharrte Marilene, »denn die Polizei verdächtigt Ihre Tochter, für den Mord an ihrem Lebensgefährten verantwortlich zu sein. Ich glaube aber, dass der Täter in der Vergangenheit zu suchen ist.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Es ist viel zu lange her und zu weit entfernt von hier. Lassen Sie sich nicht von ihr einwickeln, sie hat schon immer versucht, anderen für ihr eigenes Tun die Schuld zu geben. Sie schreit Vergewaltigung, dabei sprechen die Fotos eine völlig andere Sprache. Es wundert mich gar nicht, dass sie das vor Antonia verbergen will. Das würde ich an ihrer Stelle auch tun, und zwar um jeden Preis.«
Marilene war für einen Moment sprachlos. Diese schlecht verhüllte Anschuldigung war ungeheuerlich. »Wissen Sie, wer das war?«, fragte sie schließlich.
»Nein. Und auf den Fotos sind die Männer auch nicht zu erkennen. Meine Tochter hingegen schon. Glauben Sie mir, Vergewaltigung sieht sehr anders aus.«
»Die Männer?«, vergewisserte Marilene sich.
»Mindestens zwei, einer war etwas korpulenter, darum konnte ich das unterscheiden.«
»Wann war das? Hatte das etwas mit einer Betriebsfeier damals zu tun?«
»Oh ja, Lilian war am nächsten Morgen noch so betrunken, dass sie nicht geradeaus gehen konnte. Da hat sie auch noch kein Wort darüber verloren. Erst als ein paar Tage später dieser Brief kam, der sie einlud, den Spaß fortzusetzen, sonst würden die Fotos die Runde machen, da hat sie behauptet, es habe sich um eine Vergewaltigung gehandelt. Ich bitte Sie, das war doch eine reine Schutzbehauptung. Jedenfalls musste ich sie wohl oder übel aus der Schusslinie nehmen, also habe ich sie zu den Eltern meines Mannes gebracht. Was hätte ich sonst tun können?«
Marilene zog es vor, die Frage als rhetorisch zu betrachten, nicht, dass sie sich noch zu ohnehin vergeblichen Vorträgen über Vertrauen hinreißen ließe. Der eigenen Tochter nicht zu glauben, war verletzend genug, sie einfach fortzuschaffen in ihren Augen eine Wunde, die niemals heilen würde. Andererseits war sie voreingenommen, gab sie vor sich selbst zu. Vergewaltigung war schwierigstes Terrain. Taten wurden allzu oft vor lauter Scham nicht angezeigt, und die Beweisführung war schwierig, erst recht, wenn die Tat Tage zurücklag, wie offenbar hier. Aussage gegen Aussage führte so gut wie nie zu einer Verurteilung, im Falle von zwei gegen eine schon gar nicht. Und was heute miserabel lief, war seinerzeit noch schlimmer gewesen.
»Sind die Namen«, Marilene konsultierte ihren Zettel, »Kelling, Breitbach oder Reinicke gefallen?«, fragte sie.
»Möglich, ich kann mich nicht daran erinnern. Wie gesagt, das hätte sowieso nichts genutzt, denn auf den Fotos sind sie nicht zu erkennen.«
»Okay, danke trotzdem für Ihre Zeit«, sagte Marilene resigniert und beendete das Gespräch.
Viel gebracht hatte das nun nicht gerade, überlegte sie. Nicht für Antonia jedenfalls. Entweder war ihre Mutter die Schlampe, für die Sigrid Tewes sie hielt, oder ihr Vater war ein Vergewaltiger. Beides würde sie gern fernhalten von ihr.
Warum nur konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, dass der Mord an Christian Körber mit der Vergangenheit zu tun hatte? Wegen des Briefs natürlich. Die Frage war nicht unbedingt, wer den geschrieben hatte, sondern warum. Körber
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