Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
dass Blut und Speichel fliegen, diese Augen wird sie nie vergessen, Gerrit krümmt sich, versucht Kopf und Hals zu schützen, unmöglich mit nur einem unverletzten Arm, und jetzt geht ein Zittern durch das Tier, der Hund reißt das Maul auf und fixiert sein Ziel, warum kriegt sie nicht genug Luft?, noch drei Schritte, zwei, sie holt weit aus, gib mir Kraft, fleht sie, und ein letzter, dann ist sie da, ihr ist, als höre sie, wie ihre Hand niederrauscht, doch der Schlag, den sie dem Tier versetzt, den hört sie nicht, zu schwach, viel zu schwach, sie holt noch einmal aus, trifft auch, doch der Hund schaut nicht mal nach ihr und stürzt sich hinab, Gerrit die Kehle zu zerfetzen, und sie will schreien, kann nicht, nimmt beide Hände, hebt den Stein, und auf einmal ist da noch jemand, und er hat ein Messer, springt hierhin und dorthin für den richtigen Winkel, und Marilene schließt ergeben die Augen, starr, vollkommen starr, bis das Jaulen des Hundes anzeigt, dass er getroffen ist, nicht Gerrit, dann sackt sie zu Boden.
Das Heulen herannahender Sirenen brachte sie zu sich, und sie öffnete vorsichtig die Augen. Gerrit lag direkt vor ihr. Atmete er? Sie war sich nicht sicher, zwang sich, den Blick nicht abzuwenden, nicht zu der Bestie zu schauen, der Hund war tot, ganz sicher, keine Gefahr mehr, kein Grund, sich zu vergewissern. Atme, beschwor sie Gerrit und stützte sich auf den Ellbogen, um besser sehen zu können. Sein Gesicht war erschreckend bleich und zeigte keine Regung, nur ein Lufthauch, der mit seinen Wimpern spielte, täuschte Leben vor, sie robbte näher, bis sie seinen Kopf berühren konnte, streichelte ihm übers Haar. »Atme«, wimmerte sie.
»Fast«, krächzte Gerrit.
Was meinte er? Abermals wellte Panik in ihr auf, fast atmen? Nicht doch, bat sie und streichelte weiter seinen Kopf, heftiger als zuvor, eigentlich kein Streicheln mehr.
»Gesagt«, fügte Gerrit hinzu.
Das ergab keinen Sinn.
Ein Sanitäter kam auf sie zugerannt, zog sie an den Füßen fort, ein kleines Stückchen nur, doch Marilene versuchte, wieder heranzukriechen. Er blockierte den Weg, hockte sich hin und fühlte Gerrits Puls. »Wir kümmern uns jetzt um ihn«, sagte er.
Ihren Beinen nicht trauend, setzte Marilene sich auf. Ein zweiter Sanitäter kam hinzu und schaute sie fragend an.
Marilene deutete auf Gerrit. »Bei mir ist alles in Ordnung«, sagte sie zittrig. Eine glatte Lüge, nichts würde je wieder in Ordnung sein, wenn Gerrit nicht durchkäme.
Der Notarzt traf ein, sprang beherzt aus dem Wagen und hüpfte, seine Tasche schlenkernd, auf sie zu, tapsig wie ein Welpe, gewiss ein Hochstapler, undenkbar, dass so ein Kind Arzt war, jedenfalls nicht fertig, sie wollte einen richtigen Arzt für Gerrit, keinen Praktikanten.
Zeitgleich traf der Streifenwagen ein, und auch dessen Insassen waren eben erst der Pubertät entwachsen, die Jungs näherten sich bedächtig, Hände an der Waffe. »Ist er tot?«, fragte der Pickligere.
Wer nun, der Hund oder Gerrit? Marilene zuckte mit den Achseln.
Sachte stupste er das Tier mit der Fußspitze an, es zeigte keine Regung. Ratlos schauten sie auf den Hund hinab.
»Wer war das mit dem Messer?«, fragte der andere gegen den Boden gerichtet.
Gute Frage, wo war der Mann?
»Ich, und es ist ein Brieföffner, was anderes war grad nicht zur Hand«, sagte Olaf.
Olaf? Marilene schaute hinter sich. Olaf. Wo kam der denn her?
* * *
Sie hatte ihn drinnen glatt übersehen, erkannte er, ging in die Hocke und beantwortete die Frage, die ihr ins Gesicht geschrieben stand. »Was für ein Glück, dass ich dich besuchen wollte«, sagte er, »du musst unbedingt deinen Schlagarm trainieren.«
Ihr Lächeln verunglückte, doch sie ließ es zu, dass er ihr aufhalf. Sie drohte, wegzukippen, war fast so bleich wie der Junge, und er stützte sie. »Wo ist der Halter dieser verdammten Bestie?«, fragte er, nicht, dass jemand hier auf dumme Gedanken käme, und sein Blick traf sich mit dem eines Mannes auf der anderen Straßenseite, bis Steinhauer gemächlich davonfuhr und ihm die Sicht versperrte.
Die Beamten schauten einander ratlos an. »Wir nehmen ihn mit, oder?«, fragte einer der beiden.
»Jau«, sagte der andere und ging zum Eingang, wo Renate Heeren tränenüberströmt die Hände rang. »Haben Sie eine Plane oder Plastiktüte?«, fragte er.
Sie nickte stumm und verschwand ins Haus.
»Hat jemand den Vorfall beobachtet?«, erkundigte sich der Beamte.
Anscheinend ja, dachte Grünberger. Der Mann
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