Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
Film mit Jack Nicholson einiges verändert hatte.
Sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass Antonia versuchen könnte, sich das Leben zu nehmen. Sie wirkte nicht wie jemand, der aufgab und alles hinwarf, im Gegenteil, ihr war sie vorgekommen wie eine, die trotz allem, was sie belastete, in der Lage war, darüber hinauszublicken. Gerrit hatte ähnlich empfunden, sie sei einfach nicht der Typ dafür, hatte er gemeint, als er ihr berichtet hatte, was vorgefallen war.
Die Sache hatte ihn mächtig aus dem Gleichgewicht geworfen, arme Socke. Erst schien er sich nicht von der Stelle rühren zu können, hatte im Wohnzimmer gestanden und den Blumenstrauß niedergestarrt, den Lothar hinterlassen haben musste – sie schmunzelte beim Gedanken daran –, und später, nach dem Essen, das sie gekocht hatte, war er den ganzen Abend rast- und ratlos durch die Wohnung getigert. Irgendwann hatte sie den Versuch aufgegeben, ihn zu beruhigen, und war ins Bett gefallen.
Sie wusste nicht, ob er die Nacht hindurch marschiert war oder seine Wanderung erst am Morgen wiederaufgenommen hatte. Ihr hatte die Zeit, vielleicht auch die Geduld gefehlt, sich um ihn zu kümmern, denn sie hatte verschlafen. Eine ganze Stunde war sie zu spät dran gewesen, weil sie offenbar in einem unerklärlichen Anflug von Wahn oder Wunschdenken die Uhrzeit an ihrem Wecker verstellt hatte. So hatte sie Gerrit zum Baumarkt beordert, die Utensilien für die Renovierung zu besorgen, in der Hoffnung, dass Arbeit Abhilfe schaffen würde. Ein schwieriges Unterfangen anscheinend, denn er war noch immer nicht zurückgekehrt.
Sie entsann sich ihres Anliegens und tippte die Nummer ein, halb hoffend, dass niemand antwortete.
»Tewes.«
Logisch, eine Begrüßung wäre ja auch zu viel verlangt, dachte Marilene. »Guten Morgen«, sagte sie, vielleicht eine Spur zu betont, »Marilene Müller. Ihr Sohn hat mich angekündigt, glaube ich?«
»Hat er.«
»Ich habe Ihnen nicht die Wahrheit gesagt«, bekannte Marilene, »und die Geschichte ist kompliziert. Darf ich sie Ihnen darlegen?«
Schweigen am anderen Ende, nur schnelles Atmen verriet, dass Sigrid Tewes noch am Apparat war. »Ich ermittle nicht in einer Erbschaftssache«, begann sie, »sondern in einer Vaterschaftssache. Ihre Enkeltochter hat mich beauftragt, herauszufinden, wer ihr leiblicher Vater ist.«
»Eine Enkeltochter.« Tewes schnaubte. »Vielleicht wäre es besser, wenn sie das nicht erfährt«, sagte sie. »Herrje, ich hätte von vornherein nicht zugelassen, dass Lilian das Kind überhaupt austrägt.«
»Mir ist klar, dass es eine böse Überraschung geben kann«, sagte Marilene, »und ich behalte mir auch durchaus vor, mein Wissen für mich zu behalten, aber ich habe das Gefühl, dass die Vergangenheit noch in anderer Hinsicht eine Rolle spielt. Es ist nämlich so, dass der frühere Lebensgefährte Ihrer Tochter ermordet worden ist, und zwar mutmaßlich von jemandem, der ebendieses Geheimnis kannte. Es gibt einen entsprechenden Brief, eine Art Erpresserbrief, den Ihre Enkeltochter gefunden hat.«
»Von einer Art Erpresserbrief habe ich noch nie gehört, Sie sollten präziser formulieren«, forderte Tewes sarkastisch. »Wie heißt sie?«
»Antonia«, sagte Marilene.
»Ach, wie originell. Hoffmanns Erzählungen. Wenn sie singt, stirbt sie. Ich frage mich, ob meiner Tochter das bekannt war, als sie ausgerechnet diesen Namen wählte. Singt sie?«
»Ich weiß es nicht.« Marilene hatte keine Ahnung, worum es gerade ging.
Tewes schien das zu spüren. »Die ›Barkarole‹ werden Sie ja wohl kennen, Jacques Offenbach«, erläuterte sie.
»Natürlich«, sagte Marilene. Sie hatte ihre eigene musikalische Assoziation zu dem Namen, ›My Antonia‹ von Emmylou Harris, ein Lied von immerwährender Liebe. Über den Tod hinaus. Nein, nicht schon wieder, dachte sie und schob den Gedanken beiseite.
»Meine Tochter hat als Kind viel gesungen«, fuhr Tewes fort. »Leander hat behauptet, ihr Gehör sei absolut, aber ich hatte nicht den Eindruck. Nun, sie war sowieso nicht stabil genug für eine musikalische Karriere. Also was steht nun in dem Brief?«
»Wenn du wissen willst, wie du zu deiner Tochter, in Anführungszeichen, gekommen bist, dann komm da und da hin«, klärte Marilene sie auf, »unterschrieben mit ›Einer, der es besser weiß‹.«
»Also hat Lilian ihren Lebensgefährten im Glauben gelassen, Antonia sei seine Tochter«, folgerte Tewes.
»Das sieht so aus«, bestätigte Marilene. »Für Antonia ist
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