Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
die Hände zum Gebet gefaltet, die Augen geschlossen und die Köpfe gesenkt. Rauschbraune Locken fielen in Kaskaden bis zu den Hüften, verdeckten gar die Flügel. Allein die Gewänder erschienen Marilene etwas seltsam, aber was wusste sie schon, vielleicht war dies Grün im Himmel gerade aktuell, und die Turnschuhe? Ein Traum, ein Trugbild, Marilene trat näher und streckte den Arm nach dem jüngsten Engel aus, gewiss, dass ihre Hand einfach hindurchgleiten würde. Der Engel öffnete die Augen, braune Augen, Gerrits Augen.
»Hallo, ich bin Gerrits Schwester Paula, du musst Marilene sein. Danke, dass du auf uns gewartet hast.«
Marilene nickte zögernd, sie traute weder ihrem Zustand noch ihrer Stimme.
»Das ist Hanna«, fuhr Paula fort, »die Älteste von uns, und dies«, sie berührte die Schwester sanft am Arm, »dies ist Rebekka. Wie geht’s ihm?«
»Ich …«, krächzte Marilene und räusperte sich, »mir hat der Arzt nicht viel gesagt, man wird abwarten müssen …«
»Typisch Ärzte«, sagte Paula, »aber kein Problem, Hanna kriegt da mehr raus.«
»Ihr solltet noch wissen«, Marilene verkniff sich ein Gähnen, »dass das Absicht gewesen sein könnte und kein Unfall mit einem entlaufenen Hund. Könnte«, wiederholte sie, »die Polizei ermittelt jedenfalls.«
»Wenn das so ist, werden wir hier Wache halten.« Hanna stemmte die Hände in die Hüften. »Wir teilen uns das auf in Schichten von fünf Stunden, ich übernehme die erste«, bestimmte sie, »Rebekka, du die zweite. Wie ist das, kannst du uns unterbringen?«, wandte sie sich an Marilene, »zwei Schlafplätze reichen jeweils.«
»Sicher, das ist das Mindeste …«
Hanna unterbrach sie. »Wir reden morgen, und jetzt ab mit euch. Gute Nacht.« Sie scheuchte sie hinaus wie eine Schar von Gänsen.
Paula grinste. »Denk dir nichts dabei, sie ist immer so.«
»Was ist mit euren Eltern?«
»Die sind schon lange tot.« Sie bekreuzigte sich. »Gerrit war erst zehn, als sie verunglückt sind, Hanna war da schon zwanzig, wir konnten also zusammenbleiben.«
»Das tut mir leid«, sagte Marilene und wunderte sich, dass Gerrit nie darüber gesprochen hatte.
»Gerrit redet nicht gern darüber«, sagte Paula, »ein tief sitzendes Trauma, das er hinter seiner Flapsigkeit verbirgt. Hab ich gelernt, ich studiere Psychologie«, schob sie hinterher.
»Und du, was machst du?«, wandte Marilene sich an Rebekka.
»Sie ist Landschaftsgärtnerin«, antwortete Paula an ihrer statt und senkte die Stimme, »sie redet lieber mit Pflanzen als mit Menschen. Und Hanna – nun, Hanna ist Soldatin.«
»Oh«, entfuhr es Marilene, »interessant.«
»Ja, nicht? Rate mal, warum ich Psychologie studiere. Wenn Gerrit nur durchkommt«, flehte sie, »er sollte nämlich mein erster Klient werden. Sag’s ihm aber nicht, sonst macht er noch schlapp, und er muss doch jetzt ordentlich kämpfen.«
Marilene schwante, dass er längst Bescheid wusste und darum Fluchtpläne schmiedete. »Das wird schon«, sagte sie mit mehr Hoffnung denn Gewissheit, »er ist jung und kräftig, er wird das schaffen.«
* * *
Oder auch nicht, dachte Grünberger, manchmal wurden gerade die Jungen ganz unerwartet dahingerafft. Er erwartete, dass Marilene sich von den beiden Frauen verabschiedete, aber sie steuerten gemeinsam auf einen Kombi mit Wiesbadener Kennzeichen zu. Demnach dürfte es sich um Gerrits Familie handeln. Er stieg aus seinem Wagen und sprintete hinterher.
»Marilene!«, rief er, und drei Köpfe fuhren zu ihm herum, »wie geht’s Gerrit? Ich hab x-mal bei dir angerufen«, was stimmte, »und dass du jetzt immer noch nicht zu Hause warst, hat mich so beunruhigt, dass ich lieber hergekommen bin«, sagte er, sobald er die kleine Gruppe erreicht hatte, und auch das stimmte. Irgendwie.
»Unverändert«, sagte Marilene. »Das sind Gerrits Schwestern«, stellte sie unvollständig vor, »und das ist der Mann, der Gerrit das Leben gerettet hat, Olaf Grünberger.«
Die Gesichter der beiden hellten sich auf. »Toll«, sagte die Jüngere und reichte ihm die Hand, »vielen, vielen Dank, wir machen’s wieder gut, sobald er über den Berg ist, dann feiern wir ein richtig großes Fest mit Ihnen als Ehrengast, ganz bestimmt.«
Ein Fest würde es geben, nur eben kein fröhliches, dachte er. Sie hörte gar nicht mehr auf, seine Hand zu schütteln, und er gab sich verlegen. »Kein großes Ding«, behauptete er, »jeder hätte das getan, das ist doch selbstverständlich.«
»Das bezweifle ich«, sagte
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