Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
nicht kommen«, sagte er, »sie ist verhaftet worden. Aber keine Sorge, ich hab die Vormundschaft für dich, nur für den Notfall, und das ist ja wohl einer. Ich erledige das mit der Entschuldigung.«
Ihr fiel das Stück Pizza aus der Hand, in das sie gerade hatte hineinbeißen wollen. Ihr war schlecht, ihr war so was von schlecht. Sie stürzte hinaus.
* * *
Sie war zu alt für Disco, immer schon gewesen, dachte Marilene. Doch was sich früher hatte ertragen lassen, gerade so, empfand sie heute als wahre Prüfung. Die Musik hämmerte gnadenlos mit immer gleichem Beat gegen jeden gesunden Puls, bis der klein beigab und das Herz aus dem Takt trieb. Was damals Lichtorgel geheißen hatte, war heute Hightechmäßiges, das den Eindruck erweckte, die Tanzenden seien allesamt ruckelnde Roboter, und das Blitze im Stakkato versprühte, die sich in die Netzhaut brannten, Wunden, die so schnell nicht heilen würden, wenn überhaupt. Am schlimmsten war das schrille Pfeifen in den Ohren, doch sie schien die Einzige zu sein, die darunter erbärmlich litt. Sie beherrschte knapp ihren Fluchttrieb und versuchte, Kelling und Breitbach zu entdecken. Unmöglich in dem Gewimmel spärlich, aber glitzernd bekleideter Leiber, die sich in unbegreiflicher Ekstase zuckend verrenkten, dass man glauben könnte, einem Massenausbruch von Epilepsie beizuwohnen. Sie hasste Techno.
Breitbach, nahm sie an, würde eher nicht unter den Tanzenden zu finden sein, und sie begann, den Raum zu durchstreifen. Ursprünglich hatte sie die beiden auf dem Firmenparkplatz abfangen wollen, doch sie hatte vom Auto aus mithören können, wie sie sich verabredet hatten für den Abend, Breitbach zögernd, »Ich hab doch gesagt, dass ich aufhören will«, und Kelling drängend, »Stell dich nicht so an, deine Frau wird schon nichts mitkriegen«, sodass sie sich kurzerhand entschlossen hatte, Breitbach hinterherzufahren.
Er wohnte mit Frau und zwei kleinen Kindern, die ihn kreischend empfangen hatten, in einer Vorortsiedlung Bremens, in der man ohne Straßenschilder – oder jemanden, der vorausfuhr – verloren wäre. Einheitliche schmale Reihenhäuser mit winzigen Vorgärten, in denen ganze Armadas von Gartenzwergen residierten. Gartenzwerge sagten eine Menge über ihre Besitzer aus, aber sie hatte gefürchtet, entdeckt zu werden, und sich nicht getraut, ihren Wagen zu verlassen.
Eine ganze Stunde hatte sie warten müssen, dann endlich war Kelling eingetroffen, frisch geschniegelt hatte er Breitbach – ebenso frisch, doch bei ihm würde der Glanz schneller vergehen – an der Tür abgeholt. Ehefrau Breitbach hatte ihren Gatten sichtlich ungern ziehen lassen, genau genommen hatte sie mächtig gezetert. Kelling hatte die Szene abgekürzt, indem er auf den Chef verwiesen hatte, der ein Fehlen an diesem Wochenende nicht dulden würde, zu wichtig seien die erwarteten Russen. Von wegen. Marilene war den beiden zu einem Restaurant gefolgt, wo sie wieder hatte warten müssen, ganze zwei Stunden hatten sie dort zugebracht – ohne Chef, ohne Russen. Sie war drauf und dran gewesen, aufzugeben, da waren sie endlich wiederaufgetaucht und hatten sich auf den Weg gemacht. Sie hatte versucht, nicht allzu viel Abstand zwischen ihren Fahrzeugen zu lassen, und hätte sie trotzdem beinahe verloren, als eine Straßenbahn quietschend ihren Weg gekreuzt hatte. Reines Glück, dass sie sich für die richtige Spur entschieden und sie auf dem Weg hierher wieder eingeholt hatte.
Bezweifelnd, dass man ihr Einlass gewähren würde, zu alt, zu unspektakulär gekleidet, war sie zunächst eine Weile im Wagen sitzen geblieben, aber weder Kelling noch Breitbach ließen sich draußen blicken. Schließlich hatte sie sich einen Ruck gegeben und war forsch auf den Türsteher zumarschiert. Die Musterung, der er sie unterworfen hatte, war absolut erniedrigend gewesen, sämtliche Vorbehalte, die sie erwartet hatte, und noch mehr lagen in seinem abschätzigen Blick, doch er hatte sie passieren lassen, welch Wunder. Wahrscheinlich hatte er angenommen, sie würde bald genug das Weite suchen, bei dem Lärm.
Breitbach, endlich. Mit dem Rücken zur Tanzfläche thronte er auf einem Barhocker an der Theke. Seine Körperfülle verdeckte Kelling nahezu, erst recht das Mädchen zwischen ihnen. Marilene hielt sich etwas weiter links. Blond, hübsch, eher schüchtern, nicht ganz so aufreizend gekleidet wie die meisten jungen Frauen hier, dafür aber erkennbar jünger. Ein Ausdruck im Gesicht, als könne sie es gar
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