Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben

einen, wie er fand, überzeugenden Hustenanfall hin. Nächster Fehler: Sie kam zu ihm und klopfte ihm den Rücken, nicht etwa von hinten oder von der Seite, nein, sie stand direkt vor ihm und gewährte tiefen Einblick. Er schloss die Augen, wandte sich ab und kratzte sich verlegen am Kopf, während er panisch nach den passenden Worten suchte. »Judith –«
    »Ich versteh schon«, unterbrach sie ihn. »Du findest mich nicht attraktiv.«
    Das wusste sie besser. Er blickte zur Decke. »Doch, leider«, beteuerte er, »das ist Teil des Problems.«
    »Aber wieso das denn? Es braucht doch niemand etwas zu erfahren.«
    Na klar, dachte er, und beim nächsten ehelichen Wortgefecht diente er als Waffe. »Ich schätze eure Freundschaft zu sehr, um so etwas zu riskieren«, sagte er einigermaßen wertfrei, bemüht, ihren Blick zu halten, oder umgekehrt, seinen nicht tiefer wandern zu lassen als etwa Kinnlinie. Apart, fand er, es gab einfach kein ungefährliches Terrain an dieser Frau.
    »Wäre deine Antwort anders, wenn ich nicht verheiratet wäre? Oder wenn Enno nicht ausgerechnet ein Kollege wäre?«
    »Du bist verheiratet, Enno ist mein Kollege, die Frage stellt sich nicht«, erklärte Zinkel, »und ich möchte auf keinen Fall als Trennungsgrund herhalten, also nein, meine Antwort bleibt dieselbe.«
    »Schade«, entgegnete Judith, »du ahnst nicht, was du verpasst.«
    Er ahnte nicht nur, er wusste, was er verpasste: Es ging gerade wiegenden Schrittes Richtung Treppe, aufreizend langsam, wie um ihm Gelegenheit zu geben, seine Meinung zu ändern. Er müsste den Blick abwenden und schafft es nicht, all seine Vorsätze wirbeln durcheinander, Schall und Rauch, denkt er noch, hilflos, öffnet die Hände, kurz vor der Aufgabe, und jetzt schaut sie sich noch einmal um und sieht unmittelbar, dass er sie nicht zurückweisen wird, diesmal nicht. Sie kommt auf ihn zu, immer näher, und dann stehen sie so dicht voreinander, dass er elektrische Spannung zu spüren vermeint, ein Kribbeln, das allmählich auf seinen ganzen Körper übergreift, während sie einander unentwegt in die Augen starren, er weiß, ein einziger Lidschlag bräche den Bann, doch wie gelähmt blickt er geradewegs in einen Abgrund tiefsten Blaus, ein unentrinnbarer Sog, dem er nichts, aber auch gar nichts entgegenzusetzen hat. Der Kuss raubt ihm Atem und Verstand, der noch einmal flüsternd aufbegehrt, nur nicht berühren, und seine Hände kosen die Luft. Dann geht sie.
    Er stand reglos mitten im Raum, unfähig, sich aus der Starre zu lösen, und schloss die Augen. Das war nur ein Traum, versuchte er, sich zu beruhigen ein Wunschtraum vielleicht, aber gewiss nicht mehr, und Träume, jedenfalls die schönen, wiederholten sich nie. Er seufzte ergeben, ging zum Kühlschrank und holte sich ein Bier, bevor er das Licht löschte und sich wieder aufs Sofa fallen ließ. Der Himmel war näher hier. Die Hölle allerdings auch.
    * * *
    Wer, wer, wer tat ihr das an?!, schrie es in Lilian. Sie saß im Dunkeln am Esstisch, den Kopf zwischen den Armen vergraben, und wartete auf Frank. Warum war er nicht da, wenn sie ihn am meisten brauchte? Ihn, seine starken Arme, sein beruhigendes Zureden, selbst wenn er es mit einem »Dummchen« einleitete, alles war besser, als allein mit dieser ungeheuren Anschuldigung umgehen zu müssen. Mit dem Verdacht, sie habe ihren Christian umgebracht. Morgen schon musste sie zur Polizei, und sie hatte sich nie zuvor so gefürchtet.
    Sie hob den Kopf, das stimmte gar nicht, sie hatte Schlimmeres erlebt, viel Schlimmeres, und es überlebt. Nicht daran denken, nicht jetzt, beschwor sie sich.
    Sie konnte sich nicht erklären, woher Christians Uhr, sein Ausweis und seine Zeugnisse kamen. Oder warum. Oder warum jetzt. Die Frage nach dem Wer erschien ihr am dringlichsten. Und am schwierigsten zu beantworten. Antonia hätte die Sachen damals finden und vor ihr verstecken können, klar, und es gab sicherlich eine Menge Verstecke in diesem Haus, auf die sie im Leben nicht kommen würde, wenn sie in den vergangenen fünf Jahren schon nicht darauf gestoßen war. Also waren es gute Verstecke gewesen. Folglich hatte es keinen Grund gegeben, diese Dinge rauszukramen und neu zu verstecken, noch dazu so schlecht, dass man praktisch drüberfallen musste, ob man wollte oder nicht. Also sollten die Sachen gefunden werden? Wenn das stimmte, hatte es prima geklappt, aber dann konnte es Antonia nicht sein. War es auch nicht, wischte sie ihren wieder aufgeflammten Argwohn