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Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben

Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben

Titel: Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beate Sommer
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lesen und schreiben kannst. Es geht also darum, ob deine Kenntnisse ausreichen, um in deiner Umgebung klarzukommen. Wenn sie nicht ausreichen, spricht man vom funktionalen Analphabetismus. Bezogen auf uns hier, können diese Menschen durchaus ein paar Worte lesen oder sogar schreiben, aber die einfachsten Texte können sie nicht erfassen.«
    »Aha«, sagte Marilene, nicht eben geistreich. Es fiel ihr nicht leicht, seinen Ausführungen zu folgen, und sie wunderte sich, wie sicher er ohne Notizen über ein Thema referierte, das auch für ihn Neuland darstellte.
    »Halt dich fest«, fuhr Gerrit fort. »In Deutschland sind siebeneinhalb Millionen Menschen zwischen achtzehn und vierundsechzig funktionale Analphabeten. Das sind vierzehn Komma fünf Prozent!«
    »Boah, trotz Schulpflicht? Das ist ja unglaublich«, warf Marilene ein.
    »Das ist vor allem ein Skandal«, entgegnete Gerrit, »dazu kommen nämlich noch mal dreizehn Millionen Menschen, die auch gebräuchliche Wörter nur fehlerhaft schreiben können und einfache Texte nicht begreifen.«
    »Ist das jetzt ein Problem von Migranten?«, fragte Marilene.
    »Könnte man annehmen, nicht? Tatsächlich ist es so, dass mehr als die Hälfte der Analphabeten deutsche Muttersprachler sind. Alle haben deutsche Schulen besucht, warte, die Zahlen kann ich mir dann doch nicht alle merken.« Gerrit konsultierte einen Zettel, den er aus seiner Jeanstasche zog. »Die Hälfte hat einen Hauptschulabschluss, und jeder Fünfte sogar Realschule. Mich wundert jetzt gar nichts mehr, seit ich das gelesen habe.«
    »Wieso, was meinst du?«
    »Du musst dich mal im Netz rumtreiben«, empfahl er, »es gibt Foren zu allen möglichen Themen, da schreibt jeder alles, nur nicht korrekt. Ich hab immer gedacht, dass Rechtschreibung diesen Leuten im Eifer des Gefechts nicht so wichtig ist, aber vielleicht stimmt das gar nicht. Vielleicht können sie’s einfach nicht. Oder guck dir mal Kommentare zu irgendwelchen Nachrichten an, das ist voll krank, und zwar auch inhaltlich. Wenn du so was liest, möchtest du manchen Leuten das Wahlrecht aberkennen, echt«, ereiferte sich Gerrit.
    Der Gedanke war so neu nicht, war zu ihrer Zeit eine beliebte Forderung die Leser einer bestimmten Zeitung betreffend gewesen – für die heute ganz ungeniert zahlreiche Prominente Werbung machten. Verkehrte Welt. Wann war sie in das Früher-war-alles-besser-Alter gekommen? »Versagt da die Schule oder die Schulpolitik?«, fragte sie.
    »Beide, denke ich. All diese Pisa- und was weiß ich für Tests, die dauernd durchgeführt werden, belegen, dass ungefähr zwanzig Prozent der Fünfzehnjährigen zur Risikogruppe funktionaler Analphabetismus gezählt werden müssen. Die werden aber durchgeschleppt, denn zum einen können sie viel im Mündlichen ausgleichen, und zum anderen wäre das Image von Schulen mit einer hohen Zahl von Schulabbrechern gefährdet. Das Einzige, was der Politik dazu einfällt, sind VHS -Kurse, von denen es erstens sowieso zu wenige gibt, und zweitens setzen die voraus, dass ein Analphabet sich zum Analphabetismus bekennt. Und genau da liegt das Hauptproblem.«
    »Sie verheimlichen es?«
    »Du kannst in der Öffentlichkeit saufen, kiffen, qualmen, knutschen, alles Mögliche, aber zugeben, dass du nicht lesen kannst, ist dermaßen schambehaftet, dass die meisten Analphabeten ganz unglaubliche Strategien entwickelt haben, um diesen Makel zu verbergen.«
    »Die Brille, von der Antonia gesprochen hat«, erinnerte Marilene sich, »die Ausreden …«
    »Ja, und das geht noch viel weiter, bis hin zur Selbstverstümmelung, ein gebrochener Arm oder so.«
    »Wahnsinn«, entfuhr es Marilene. »Man kann sich gar nicht vorstellen, wie es sein mag, nicht lesen zu können, weil es so etwas Selbstverständliches ist. Du kannst ja nicht mal einkaufen, wenn du nicht weißt, was auf der Verpackung steht. Denk nur an Verkehrsschilder, Speisekarten, Beipackzettel, gut, das ist meistens eine Altersfrage, Fahrpläne, Rechnungen, Verträge, die Liste ist doch endlos. Ich lese ja sogar alles, was auf dem Milchkarton steht, und zwar jeden Morgen«, offenbarte sie einen Tick, über den sie selbst oft genug den Kopf schüttelte.
    »Nur für den Fall, dass sich über Nacht was geändert hat?«, frotzelte Gerrit. »Du glaubst aber nicht an kleine grüne Männchen, oder?«
    »Das dann doch nicht«, sagte sie und dachte unwillkürlich an den Geruch von Karamellbonbons. Grüne Männchen wären eine Erklärung. »Aber wie leben diese

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