Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
sich um ganz profanen Selbsterhaltungstrieb. »Na gut«, sagte sie, reichte ihm ihre Tasse und beobachtete, wie er gar zu eifrig die Anweisungen Renates befolgte: erst Kluntje, dann Tee, und die Sahne bloß nicht umrühren. Dabei hatte ihm zunächst ein Igitt auf den Lippen gelegen, sie hatte es genau gesehen, aber nach dem ersten vorsichtigen Schluck schien er vom Skeptiker zum Süchtigen konvertiert zu sein.
»Wie hält sich Antonia?«, fragte sie.
»Oje, sie ist umgekippt. Paul wollte ihr erst nicht sagen, was passiert ist, aber sie hat drauf bestanden. Hätte sie besser nicht gemacht. Na ja, so schlimm war’s jetzt auch nicht, sie war nur ganz kurz weg. Natürlich ist sie ziemlich fertig, kein Wunder, das würde wohl jedem so gehen. Aber Paul war wirklich einfühlsam, da kann man nicht meckern.«
»Ihr duzt euch?«
»Na, ihr euch auch, seit dem Umzug der Jessen-Kinder, weißt du nicht mehr?«
»Doch, doch«, beteuerte sie. Allerdings war sie nicht sicher, ob die Anredeformel den Umständen noch entsprach. Zinkel würde kaum gutheißen, dass sie die Beziehung zu seinem besten Freund abgebrochen und sich aus dem Staub gemacht hatte.
»Übrigens war die Spurensicherung bei Antonia im Haus. Ich habe ein ganz klein wenig gelauscht«, gab Gerrit zu, »und mitbekommen, dass man nach Blutspuren sucht.«
»Von Kathrin?« Marilene war verwirrt.
»Nein, von Körber.«
»Das verstehe ich nicht. Was soll das nach so langer Zeit bringen? Und wieso hat Frau Tewes mich nicht angerufen? Das hab ich doch extra gesagt, Mensch! Hat Antonia eigentlich zufällig erwähnt, was genau aus Körbers Besitz da gestern gefunden wurde? Das muss ja wohl ziemlich belastend sein, wenn die so schweres Geschütz auffahren.«
»Nee, leider«, bedauerte Gerrit, »ich hab gar nicht dran gedacht, danach zu fragen, die Sache mit Kathrin stand einfach zu sehr im Vordergrund.«
»Na logisch. Mich wundert’s, dass das nicht auch bei den Ermittlungen der Polizei Vorrang hat.«
»Sag mal, dieser Brief, den Antonia gefunden hat, den hast du, oder?«
»Ja, und ihre Mutter weiß das noch gar nicht.«
»Der würde sie doch auf jeden Fall entlasten.«
Marilene überlegte. »Da bin ich nicht so sicher«, sagte sie schließlich. »Gut, er bringt den Briefschreiber ins Spiel, und die Frage ist, zu welchem Zweck der ihn geschrieben hat. Aber andererseits gibt der Brief ein Geheimnis preis, das zu wahren ein Mordmotiv für Antonias Mutter sein könnte. Die Entscheidung, ob wir ihn der Polizei übergeben, liegt nicht bei uns.«
»Sie wird es nicht wollen«, prophezeite Gerrit. »Ich hab mal ein bisschen recherchiert, bevor ich heute Morgen weg bin.«
»Ach«, sagte Marilene, »und ich dachte, du hättest ausgeschlafen. Ich hab dich schwer beneidet.«
»Ich bin nicht hier, um zu schlafen«, konterte Gerrit, »sondern um mich nützlich zu machen.«
Der Gedanke war Marilene schon gekommen, was sie allerdings beschäftigte, war die Frage nach seinem Motiv dafür. »Schieß los«, forderte sie ihn auf. Sie könnte sich durchaus daran gewöhnen, dass er ihr zuarbeitete.
»Ich war platt gestern, als Antonia damit raus ist, dass ihre Mutter nicht lesen kann. Ich hab zwar schon mal von Analphabetismus gehört, aber nicht weiter drüber nachgedacht, irgendwie nimmt man ja eher an, dass es sich um ein Problem der Dritten Welt handelt und uns hier gar nicht groß betrifft.«
»Ja«, stimmte Marilene zu, »mir sind immer mal Artikel zum Thema aufgefallen, aber gelesen hab ich sie eben deshalb nicht.«
»Genau«, sagte Gerrit. »Also: Zunächst einmal muss man unterscheiden zwischen primärem und sekundärem Analphabetismus. Ersterer bedeutet, dass man überhaupt nie Lesen und Schreiben gelernt hat, das ist dann tatsächlich mehr ein Problem der ärmeren Weltregionen. Unter sekundärem Analphabetismus aber versteht man, dass man zwar mal gelernt hat, zu lesen und zu schreiben, es aber wieder vergessen hat.«
»Echt?«, warf Marilene ein, »ich dachte, Lesen wär wie Fahrradfahren. Das verlernt man doch auch nicht.«
»Fahrradfahren ist mechanisch«, belehrte Gerrit sie, »fürs Lesen brauchst du dein Hirn – und Übung. Aber weiter: Analphabetismus ist ein relativer Begriff, er hat nämlich mit der konkreten Umgebung zu tun. Das bedeutet, wenn du in einer ziemlich ungebildeten Gesellschaft aufwächst, wo nicht viel Wert auf Lese- und Schreibkenntnisse gelegt wird, dann kannst du den Erfordernissen dieser Gesellschaft auch genügen, wenn du nur schlecht
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