Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
gewesen, sie hatte es bloß noch nicht gewusst.
Die Sünde Eitelkeit. Noch immer fürchtete sie, ihre Mutter könnte recht haben mit ihrem »selbst schuld«, ihrem »liederlichen Benehmen«, was eigentlich so niedlich klang, so passend für eine, die gern sang. Wäre der Umschlag mit den Fotos damals nicht gekommen, sie hätte vielleicht nie erfahren, wie sehr sie erniedrigt worden war. Die schrecklichen Schmerzen tagelang danach, die blauen Flecken überall und die Kratzer – das war kein einvernehmlicher Sex gewesen, wie die Fotos nahelegten. Ihre Mutter hatte den Umschlag geöffnet und dem Anschein geglaubt statt ihrer Tochter. Leander war nicht da gewesen, um ihr zu helfen. Er war sowieso nie da gewesen, abgesehen von diesem einen Sommer, dem Sommer der Lieder. Ihre Mutter hatte ihr keine große Wahl gelassen: Wenn sie den Erpressern nicht nachgeben wollte, musste sie verschwinden, und zwar für immer.
Noch heute konnte Lilian mühelos eintauchen in die Minuten des Schweigens nach diesem Ultimatum, jeder Gedanke so präsent wie damals: Natürlich musste sie weg, aber wohin nur, und wie das hinkriegen, wo sie doch nicht mal einen Fahrplan lesen konnte oder Wohnungsanzeigen. Ja, sie musste weg, aber sie konnte nirgendwohin, es gab keinen Ort, an dem sie nicht jämmerlich zugrunde gehen würde, einfach weil niemand da war, der ihr half. Aber wenn sie das auch noch preisgab, wäre der kümmerliche Rest ihrer Selbstachtung endgültig vernichtet. Dann könnte sie genauso gut in diese Scheune gehen und tun, was man von ihr verlangte. Also gab es nur einen Ausweg, einen Zug, für den sie keinen Fahrplan kennen musste, sie würde es spüren, wenn er kam, die Gleise würden zittern, sie nicht, und dann hätte das Elend ein Ende.
Ihre Mutter hatte schließlich das Schweigen gebrochen; und, wofür entscheidest du dich?, hatte sie gefragt, niederschmetternd die Erkenntnis, dass sie offenbar angenommen hatte, sie würde ernsthaft in Erwägung ziehen, den Forderungen nachzukommen. Ich will weg, hatte sie stammelnd hervorgebracht und hilflos zugelassen, dass die Mutter ihre Sachen packte und sie ins Auto verfrachtete. Diese endlose Autofahrt, wohin, wusste sie nicht, und es war ihr gleichgültig, sie hatte sie weinend und schlafend und weinend verbracht, und jedes Mal, wenn sie aufwachte, hatte ihre Mutter ihr eingebläut, diese angebliche Vergewaltigung nicht anzuzeigen, nicht damals, nicht später, nie! Dabei hätte sie das sowieso nicht gemacht, sie hatte sich viel zu sehr geschämt. Außerdem wusste sie ja kaum, was ihr geschehen war, und Jasper und Hannes waren auf den Fotos nicht zu erkennen, zwei gegen einen, wem würde man wohl glauben, bestimmt nicht ihr, das war ja so schon klar.
Jasper und Hannes. Einer von ihnen war der Vater ihrer Tochter. Nur gut, dass ihre Mutter nie etwas von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte, sie hätte mit Sicherheit darauf bestanden, dass sie das Kind abtrieb. Das hätte sie nicht überlebt, dessen war sie sich gewiss. Seltsam eigentlich, dass sie ihr Baby von vornherein nicht mit der Vergewaltigung in Verbindung gebracht hatte; es war augenblicklich ein Teil von ihr und nur von ihr gewesen, völlig unabhängig vom Erzeuger, und als die Schwester im Krankenhaus ihr das erste Mal ihre Tochter in den Arm gelegt hatte, schien die Vergangenheit irgendwie zu verblassen. Sie war so schön. So unschuldig. So hinreißend. Ihr Kind.
Antonia sah keinem der beiden im Geringsten ähnlich, sie war ihr selbst wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie hatte die Ähnlichkeit als Zeichen des Himmels empfunden, das sie entband von der Pflicht, Christian aufzuklären. Er hatte nie gezweifelt, soweit sie wusste, und für Antonia war Christian ihr Vater. Das sollte so bleiben.
Christian, der alle Wunden geheilt hatte, ohne um sie zu wissen. Wie sie ihn vermisste! Erst jetzt, seit sie wusste, dass er sie nicht freiwillig verlassen hatte, brach dieses Gefühl mit aller Macht über sie herein, fünf Jahre nachdem er ermordet worden war. Sie schämte sich, dass sie überhaupt so schlecht von ihm gedacht hatte. Dass sie nie etwas unternommen hatte, um ihn zu finden. Wenn sie ihn wenigstens vermisst gemeldet hätte, wäre er vielleicht viel früher gefunden worden, er wie auch sein – Mörder. Das Wort war grässlich, die Vorstellung noch viel mehr. Solche Sachen passierten im Fernsehen, nicht in Wirklichkeit, schon gar nicht hier, in ihrem Haus, wie die Polizei behauptete. Wer sollte so etwas tun? Dieser Brief
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