Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
die Tribüne zu steigen.«
»Seltsame Logik«, warf Marilene ein.
»Prophetisch«, entgegnete Lothar. »Sie ist zwei Jahre später unter Robespierre hingerichtet worden. Guillotine«, er vollführte eine Kopf-ab-Geste. »Du siehst also, wir waren noch längst nicht bereit, euch für vollwertige Mitglieder der Gesellschaft zu erachten, geschweige denn unsere Macht zu teilen. Die ›Zauberflöte‹ trifft das Frauenbild jener Zeit recht umfassend: rachsüchtig wie die Königin der Nacht oder lieblich-dumm wie Pamina. Fehlt noch willig-sündig, das trifft auf die Dienerinnen der Königin nur bedingt zu, entspräche aber dem Zeitgeist.«
»Wenn der Text die Originalfassung ist, an der nicht gerüttelt wird, dann begreife ich nicht, was der Bahnhof in dieser Inszenierung soll. Züge gab’s doch erst später, oder?«
»Wesentlich. Und das kann ich dir nicht beantworten, da müssten wir den Regisseur befragen. Ich kann dir ebenfalls nicht sagen, und das missfällt mir gründlich, was diese komischen Schürzen sollen. Und die drei Knaben auf den Rollern, ja nun …«
»Oh, aber sie singen so schön.«
»Sag ich doch. Konzentrier dich einfach auf die Musik.« Lothar runzelte die Stirn und kniff die Augen zusammen, wie um den Vorgang als solchen zu demonstrieren. »Lass uns mal ein paar Schritte gehen, ja?«
»Wieso, was ist los?«, fragte sie, folgte aber bereitwillig.
»Nur so ein Gefühl …«, murmelte er und dirigierte sie zwischen all den Gruppen schwatzender Menschen hindurch, in einem engen, unregelmäßigen Kreis bis zurück zum Ausgangspunkt. Offensichtlich fand er nicht, was er suchte, und so führte er sie noch einmal außen herum. »Hm, jetzt ist es weg«, murmelte er kryptisch.
»Wovon sprichst du?«
Lothar zögerte und musterte sie forschend, als überlegte er, inwieweit er ihr trauen konnte. »Jemand hat Übles gedacht«, behauptete er, »ich habe gehofft, ihn oder sie zu entdecken, jemand, der sich allzu rasch abwendet oder betont unauffällig versucht, zu verschwinden, nichts.« Er zuckte mit den Schultern. »Vergiss es einfach, wahrscheinlich hab ich’s mir bloß eingebildet.«
Der Gong unterbrach ihn. Lothar entwand ihr das nicht mal leere Weinglas und stellte es mit seinem auf den nächsten Tisch. Marilene fröstelte abermals. Lothar bildete sich keine Gedanken ein. Er spürte sie, so, wie normale Menschen hörten.
10
Das Wochenende war grauenhaft gewesen. Lilian hatte das Gefühl, die ganze Zeit auf Zehenspitzen gegangen zu sein, auf ihrem Weg nur Scherben. Antonia hatte sie nicht eines Blickes gewürdigt, von Worten gar nicht erst zu reden, und Frank hatte sich so betont gleichgültig gegeben, dass sie sich von ihm auch nicht besser behandelt fühlte. Noch nie hatte sie einen Montag so sehr herbeigesehnt. Jetzt war Frank zur Arbeit und Antonia den ersten Tag wieder in der Schule. Endlich war sie allein und hatte Raum und Ruhe genug zum Nachdenken.
Frank, so glaubte sie, würde sich schon wieder einkriegen. Sie versuchte, seine unfreundliche Äußerung nicht allzu ernst zu nehmen, zumal er nicht mehr darauf zurückgekommen war, unbedacht, das war es gewesen, er konnte unmöglich annehmen, dass sie eine Mörderin war. Wenn sie still genug hielt, ihm seine Lieblingsgerichte vorsetzte, die Rouladen vielleicht?, das Lammgulasch?, oh, und die dämlichen Hemdknöpfe endlich annähte, etwas, das sie abgrundtief hasste, wie er wusste, er würde sicherlich wieder normal mit ihr umgehen. Okay, überlegte sie, das schwarze Spitzennachthemd müsste sie wohl auch einsetzen und wenigstens einmal so tun, als gefiele ihr seine Art des Liebemachens. Falsches Wort. Als sei dies Herfallen über sie genau das, was sie wollte.
Was es nicht war!, schrie es in ihr. Zu nah dran an den ewigen Alpträumen, die sie in letzter Zeit noch häufiger heimsuchten, verschwommen wie eh und je. Bis heute wusste sie nicht genau, was sich damals wirklich abgespielt hatte. Eigentlich hatte sie der Betriebsfeier fernbleiben wollen, schon um dem Typen aus dem Weg zu gehen, der sie gefragt hatte, ob sie ihn begleiten wollte. Ausgerechnet ihre Mutter war es gewesen, die darauf bestanden hatte, dass sie hinging, das würde sich so gehören, die ihr ein Kleid nicht gekauft, aber herausgesucht hatte, das dem Anlass angemessen war. Ihrer Meinung nach jedenfalls. Sie selbst hatte es zu chic gefunden, zu gewagt, um unsichtbar zu bleiben. Bis sie es angezogen hatte. Sie hatte sich gefallen darin. In diesem Augenblick war sie verloren
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