Marilene-Mueller 04 - Wenn Ostfriesen sterben
gestern, vielleicht noch dichter sogar, und die meisten Autofahrer waren mit Licht unterwegs. Die Radfahrer scherte die schlechte Sicht wenig. Fluchend sprang Zinkel zur Seite, wich in letzter Millisekunde einem Berserker aus, der im Blindflug seinem sicheren Unfalltod entgegenraste, auf einem Zickzackkurs, den an sich bloß Nähmaschinen beherrschten.
»Hast du’s noch immer nicht begriffen?«, fragte Lübben.
»Was? Dass Radfahrer Mörder sind? Mann!«, schimpfte er, »ich war schließlich auf dem Bürgersteig. Der hat sie doch nicht mehr alle.«
Lübben warf ihm lediglich einen spöttischen Blick zu und breitete die Arme aus. »Wohin?«, fragte er.
Zinkel deutete mit dem Kinn Richtung Praxis und stapfte voraus.
»Moin, zu Dr. Siebenhaar«, sagte er am Empfang barsch und zückte seinen Ausweis.
Das Zahnpastawerbungs-Lächeln der Sprechstundenhilfe wich einem Kleines-Mädchen-hat-Angst-Ausdruck, sie sprang auf und verschwand hinter der Tür zu einem der Behandlungszimmer. Zinkel konnte nicht verstehen, was dort gesprochen wurde, und sie kam auch nicht wieder. Offenbar hatte sie wirklich Angst. Er fragte sich, warum.
Lübben hob die Brauen. »Was hat sie angestellt? Bei der Abrechnung betrogen?«, flüsterte er.
Zinkel riss entsetzt die Augen auf. »Glaub ich sofort«, gab er zurück.
Nach den Aktenschränken zu urteilen, hatte Siebenhaar es vielleicht nötig, es waren nicht allzu viele. Sie waren beschriftet. Und »T« fast in Reichweite. Er vergewisserte sich, dass niemand zusah, und umrundete den Tresen, zog die entsprechende Schublade auf und blätterte die Akten durch. Zu dumm, dachte er und wollte schon aufgeben, doch er besann sich eines anderen und wurde belohnt: Jemand beherrschte das Alphabet nicht, Tewes kam erst nach Tiemens; Tewes, Lilian.
Er schob die Schublade lautlos zu und gesellte sich wieder zu Lübben, Daumen in die Höhe gereckt. Gerade rechtzeitig, denn endlich wurde die Tür des Behandlungsraums geöffnet, und Siebenhaar stürmte den Empfangsbereich.
»Ich habe wirklich keine Zeit für Sie«, japste er und wies hinter sich, wo die Zahnarzthelferin über einem Patienten kauerte und mindestens so sehr zitterte wie der.
»Sie haben mir nicht die Wahrheit gesagt.« Zinkel sprach laut und deutlicher, als es seine Art war. Es wirkte.
Siebenhaar scheuchte sie vor sich her in das Sprechzimmer, das Zinkel schon kannte, und schloss hastig die Tür. »Wieso?«
»Wüsste ich auch gern.« Zinkel gab sich leutselig. »Lilian Tewes war oder ist Ihre Patientin. Sie haben aber behauptet, sie nicht zu kennen.«
»Ja, glauben Sie denn, dass ich mich an alle meine Patienten erinnere?«
»Ich glaube, dass Sie sich an diese Patientin auf jeden Fall erinnern, sie ist sozusagen unvergesslich, finden Sie nicht auch?«
Siebenhaar wand sich, soweit seine Körperfülle das zuließ. »Ich hatte einfach Angst, dass Sie mich verdächtigen würden, etwas mit Körbers Tod zu tun zu haben«, wich er aus.
»Komisch«, sagte Zinkel, »auf die Idee wäre ich nicht gekommen, weil Sie mir dann doch sicherlich nicht so bereitwillig geholfen hätten, die Identität des Toten zu klären.«
»Hatte ich da eine Wahl?«, fragte Siebenhaar ungläubig.
»Nö«, behauptete Lübben, »aber jetzt dürfen Sie wählen. Sie können weiterhin mauern oder mit Ihrem Anwalt aufs Präsidium kommen. Und Sie brauchen nicht mal was zu sagen, was Sie belasten könnte.«
Siebenhaar zog den Kopf ein. »Ich hab versucht, sie zu trösten, das ist alles«, murmelte er.
»Und, wollte sie getröstet werden?«, hakte Zinkel nach.
»Nicht so richtig«, bekannte Siebenhaar.
Bevor Zinkel weiterbohren konnte, wurde die Tür aufgerissen.
»Herr Doktor«, presste die Sprechstundenhilfe panisch hervor, »ich krieg den Abdruck nicht raus!«
Siebenhaar schluckte den Kraftausdruck hinunter, der ihm sichtlich auf der Zunge lag, warf ihnen einen vorwurfsvollen Blick zu und raste zu Hilfe.
»Wir sehen uns!«, rief Zinkel ihm hinterher.
»Uff«, stöhnte Lübben, »das war jetzt gar nicht gut für mein Trauma.«
* * *
Der Vorhang fiel.
»Gehen wir runter?«, fragte Lothar Männle.
Marilene nickte, dankbar für die Pause. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, an einem Freitagabend nach einer ziemlich anstrengenden Woche noch ein Kulturprogramm zu absolvieren, doch Lothar hatte ihr die Opernkarten präsentiert wie ein Zauberer das Kaninchen aus dem Hut, und so hatte sie es nicht fertiggebracht, ihn zu enttäuschen.
»Magst du ein Glas Rotwein?«,
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