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Marina.

Marina.

Titel: Marina. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Zwanzig Schritte weiter fand ich das Album, völlig zerfleddert. Ich ergriff es und blätterte mich durch die leeren Seiten. Es machte den Eindruck, als hätte jemand etwas gesucht und dann aus Wut, es nicht gefunden zu haben, das Album zerfetzt.
    Ich befand mich auf einer Kreuzung, in einer Art Verteilerkammer oder einem Kanalzusammenfluss. Ich schaute hinauf und sah, dass sich genau da, wo ich stand, ein weiterer Schacht auftat. Ich glaubte, ein Gitter zu erkennen. Als ich ihm ein Streichholz näherte, blies ein morastiger Luftzug aus einem der Sammelkanäle die Flamme aus. In diesem Moment hörte ich, wie sich, die Wände streifend, langsam und gallertartig etwas bewegte. Ich spürte einen Schauer im Nacken. In der Dunkelheit suchte ich ein weiteres Streichholz und versuchte es anzuzünden, aber die Flamme wollte nicht brennen. Jetzt war ich sicher – etwas bewegte sich in den Tunneln, etwas Lebendiges, und zwar keine Ratten. Ich hatte das Gefühl zu ersticken. Der Gestank schoss mir brutal in die Nase. Endlich brannte ein Streichholz. Zuerst blendete mich die Flamme. Dann sah ich, wie mir etwas entgegenrobbte. Aus sämtlichen Tunneln. Undefinierbare Wesen krochen wie Spinnen durch die Kanäle. Das Streichholz fiel mir aus den zitternden Händen. Ich wollte loslaufen, aber meine Muskeln waren wie gelähmt.
    Auf einmal durchschnitt ein Lichtstrahl die Schatten, so dass ich flüchtig etwas wie einen mir entgegengestreckten Arm sehen konnte.
    »Óscar!«
    Inspektor Florián rannte auf mich zu. In der einen Hand hielt er eine Taschenlampe, in der anderen einen Revolver. Als er bei mir war, leuchtete er in alle Winkel. Wir hörten beide das schaudererregende Geräusch dieser Gestalten, die jetzt vor dem Licht der Lampe zurückwichen. Florián hielt den Revolver in die Höhe.
    »Was war das?«
    Ich wollte antworten, aber die Stimme versagte mir.
    »Und was zum Teufel hast du hier unten zu suchen?«
    »María …«, stammelte ich.
    »Was?«
    »Als ich auf Sie wartete, sah ich, wie sich María Shelley in die Kloaken warf und …«
    »Shelleys Tochter?«, fragte Florián verwirrt. »Hier?«
    »Ja.«
    »Und Claret?«
    »Weiß ich nicht. Ich habe die Fußspuren bis hierher verfolgt.«
    Florián untersuchte die Mauern um uns herum. An einem Ende des Gangs befand sich eine rostige Eisentür. Mit gerunzelter Stirn ging er hin, ich dicht hinterher.
    »Sind das die Tunnel, wo Sentís gefunden wurde?«
    Florián nickte wortlos und deutete auf das andere Ende des Tunnels.
    »Dieses Netz von Sammelkanälen zieht sich bis zum ehemaligen Born-Markt hin. Dort wurde Sentís gefunden, aber es gab Anzeichen dafür, dass der Körper dorthin geschleift worden war.«
    »Da befindet sich die alte Velo-Granell-Fabrik, nicht wahr?«
    Wieder nickte Florián.
    »Glauben Sie, jemand benutzt diese unterirdischen Gänge, um sich von der Fabrik aus unter der Stadt fortzubewegen …?«
    »Da, halt mal die Lampe«, unterbrach mich Florián. »Und das auch.«
    »Das« war sein Revolver. Ich hielt die beiden Gegenstände, während er die Metalltür aufbrach. Die Waffe war schwerer, als ich gedacht hatte. Ich legte den Finger um den Abzug und betrachtete sie im Licht. Florián warf mir einen mörderischen Blick zu.
    »Das ist kein Spielzeug, Vorsicht. Spiel bloß nicht den Blödmann, sonst zersprengt dir eine Kugel den Kopf wie eine Wassermelone.«
    Die Tür gab nach. Ein unbeschreiblicher Gestank drang heraus. Wir wichen einige Schritte zurück und kämpften gegen den Brechreiz an.
    »Was zum Teufel ist denn da drin?«, rief Florián.
    Er zog ein Taschentuch hervor und bedeckte sich damit Mund und Nase. Ich reichte ihm die Waffe und behielt die Taschenlampe. Mit einem Fußtritt stieß er die Tür auf. Ich leuchtete hinein. Es war so finster, dass kaum etwas zu erkennen war. Florián spannte den Hahn und ging auf die Schwelle zu.
    »Bleib da«, befahl er.
    Ich ignorierte seine Worte und folgte ihm zum Eingang der Kammer.
    »Heiliger Gott!«, hörte ich ihn rufen.
    Ich spürte, wie mir die Luft ausging, und traute meinen Augen nicht. Im Dunkeln gefangen, hingen Dutzende von leblosen, unvollständigen Körpern an rostigen Haken. Auf zwei großen Tischen lagen in vollständigem Chaos seltsame Werkzeuge herum: Metallteile, Getriebe und Mechanismen aus Holz und Stahl. In einer Vitrine befand sich eine Sammlung Fläschchen, daneben eine Reihe Spritzen und eine Wand voll schmutziger, schwarz gewordener chirurgischer Instrumente.
    »Was ist das?«, murmelte

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