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Marina.

Marina.

Titel: Marina. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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und schob die Vorhänge zurück. Die Sonne durchflutete das Zimmer. Nachdenklich blieb sie dort stehen. Beinahe hörte ich den Mechanismus ihres Hirns arbeiten.
    »Was könnte es für einen Sinn haben, dich anzugreifen, um wieder an das Fotoalbum zu kommen, und die Fotos dann liegen zu lassen?«
    »Wahrscheinlich hat der Angreifer etwas gesucht, was in diesem Album war.«
    »Aber was es auch war, es befand sich nicht mehr drin«, ergänzte sie.
    »Dr. Shelley«, erinnerte ich mich plötzlich.
    Marina schaute mich verständnislos an.
    »Als wir ihn aufsuchten, haben wir ihm das Bild gezeigt, auf dem er in seiner Praxis zu sehen ist«, sagte ich.
    »Und er hat es behalten!«
    »Nicht nur das. Beim Gehen habe ich gesehen, wie er es ins Feuer geschmissen hat.«
    »Warum mag er dieses Bild vernichtet haben?«
    »Vielleicht war etwas darauf zu erkennen, von dem er nicht wollte, dass es jemand anders sieht.« Ich sprang aus dem Bett.
    »Wohin willst du?«
    »Zu Luis Claret. Er kennt die Lösung dieser ganzen Geschichte.«
    »Du gehst in den nächsten vierundzwanzig Stunden nicht aus diesem Haus.« Marina stemmte sich gegen die Tür. »Inspektor Florián hat sein Leben gelassen, damit du entwischen konntest.«
    »In vierundzwanzig Stunden wird zu uns gekommen sein, was sich in diesen Tunneln verbirgt, wenn wir nichts unternehmen, um es zu verhindern. Das mindeste, was Florián verdient, ist, dass wir ihm zu seinem Recht verhelfen.«
    »Shelley hat gesagt, den Tod interessiert das Recht keinen Deut«, rief mir Marina in Erinnerung. »Vielleicht lag er damit richtig.«
    »Vielleicht«, gab ich zu. »Uns aber interessiert es.«
     
     
    Als wir an die Grenze zum Raval-Viertel kamen, lag Nebel in den Gassen, getüncht von den Lichtern heruntergekommener Kaschemmen. Wir hatten das freundliche Treiben der Ramblas hinter uns gelassen und drangen in den elendesten Schlund der Stadt vor, wo es keine Spur von Touristen oder Neugierigen gab. Aus übelriechenden Portalen und Fenstern in bröckelnden Fassaden folgten uns verstohlene Blicke. Das Echo von Fernsehern und Radios stieg aus diesen Schluchten der Armut auf, ohne je über die Dächer hinauszudringen. Die Stimme des Raval erreicht nie den Himmel.
    Bald erriet man zwischen den Spalten der von jahrzehntealtem Schmutz überzogenen Häuser die düster-monumentalen Ruinen des Gran Teatro Real. Auf dem Giebel zeichnete sich wie eine Wetterfahne ein Schmetterling mit schwarzen Flügeln ab. Wir blieben stehen, um diese gespenstische Vision zu betrachten. Der berauschendste Bau ganz Barcelonas zerfiel wie eine Leiche in einem Sumpf.
    Marina deutete auf das Licht in den Fenstern im dritten Stock des Theateranbaus. Ich erkannte den Eingang zu den Pferdeställen. Hier wohnte Claret. Wir gingen zur Tür. Das Treppenhaus war noch voller Pfützen vom Regen der vergangenen Nacht. Wir begannen die ausgetretenen, dunklen Stufen hinanzusteigen.
    »Und wenn er uns nicht empfangen will?«, fragte Marina beunruhigt.
    »Vermutlich erwartet er uns«, fiel mir ein.
    Im zweiten Stock angelangt, bemerkte ich, dass Marina schwer und mühsam atmete. Ich blieb stehen und sah, dass ihr Gesicht blass geworden war.
    »Geht’s dir gut?«
    »Ein bisschen müde«, antwortete sie mit einem wenig überzeugenden Lächeln. »Du gehst zu schnell für mich.«
    Ich nahm sie bei der Hand und führte sie Stufe um Stufe zum dritten Stock. Vor Clarets Tür blieben wir stehen. Marina atmete tief durch. Dabei zitterte ihre Brust.
    »Es geht mir gut, wirklich«, sagte sie, als ahnte sie meine Befürchtungen. »Los, klopf schon. Du hast mich hoffentlich nicht hergebracht, um die Nachbarn zu besuchen.«
    Ich klopfte an. Die Tür bestand aus altem, solidem Holz, dick wie eine Mauer. Wieder klopfte ich. Langsam näherten sich Schritte der Schwelle. Die Tür ging auf, und Luis Claret, der Mann, der mir das Leben gerettet hatte, empfing uns.
    »Kommt rein«, sagte er nur und wandte sich wieder ins Wohnungsinnere.
    Wir schlossen die Tür hinter uns. Die Wohnung war dunkel und kalt. Von der Decke hing der Anstrich herunter wie Schlangenhaut. Lampen ohne Glühbirnen züchteten Spinnennester. Das Fliesenmosaik zu unseren Füßen war zerbrochen.
    »Hier lang«, hörte man Clarets Stimme aus dem Inneren.
    Wir folgten seiner Spur in ein nur von einem Kohlenbecken erleuchtetes Wohnzimmer. Claret saß vor den glühenden Kohlen und starrte sie schweigend an. Die Wände waren von alten Porträts bedeckt, Leuten und Gesichtern aus anderen

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