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Marina.

Marina.

Titel: Marina. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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ging ihm voran. Da mich diese seltsame Persönlichkeit neugierig machte, beschloss ich eines Abends, ihm eine Einladung zukommen zu lassen, damit er mich nach der Vorstellung in der Garderobe besuche. Es war beinahe Mitternacht, als er anklopfte. So viele Gerüchte hatten mich einen bedrohlichen, arroganten Typen erwarten lassen. Doch mein erster Eindruck war der eines schüchternen, zurückhaltenden Mannes. Er war dunkel gekleidet, einfach und ohne weiteren Schmuck als eine kleine Brosche am Revers – ein Schmetterling mit ausgebreiteten Flügeln. Er bedankte sich für die Einladung und bekundete mir seine Bewunderung mit den Worten, es sei ihm eine große Ehre, mich kennenzulernen. Ich erwiderte, nach allem, was ich gehört habe, sei die Ehre auf meiner Seite. Er lächelte und legte mir nahe, die Gerüchte zu vergessen. Michail hatte das schönste Lächeln, das ich je gesehen habe. Wenn er es zeigte, glaubte man alles, was ihm über die Lippen kam. Jemand sagte einmal, wenn man es ihm vorschlage, sei er imstande, Christoph Kolumbus davon zu überzeugen, dass die Erde flach wie eine Landkarte sei, und er hatte recht. An diesem Abend überredete er mich, mit ihm in den Straßen Barcelonas spazieren zu gehen. Er sagte, oft durchwandere er nach Mitternacht die schlafende Stadt. Da ich seit unserer Ankunft in Barcelona kaum aus diesem Theater herausgekommen war, willigte ich ein. Ich wusste, dass Sergei und Tatjana in Zorn gerieten, wenn sie davon erführen, doch das kümmerte mich wenig. Unbemerkt verließen wir das Theater durch die Proszeniumstür. Michail bot mir seinen Arm, und wir spazierten bis zum frühen Morgen. Er zeigte mir die bezaubernde Stadt mit seinen Augen und erzählte von ihren Geheimnissen, verwunschenen Winkeln und dem Geist, der in diesen Straßen lebte. Er erzählte mir tausendundeine Legende. Wir gingen durch die geheimen Wege des Gotischen Viertels und der Altstadt. Michail schien alles zu wissen. Er wusste bei jedem Haus, wer darin gewohnt hatte, welche Verbrechen hinter jeder Mauer und jedem Fenster begangen worden waren oder welche Romanzen sich dort abgespielt hatten. Er kannte die Namen aller Architekten, Handwerker und der tausend unsichtbaren Menschen, die dieses Szenario errichtet hatten. Während er sprach, hatte ich das Gefühl, Michail habe diese Geschichten noch nie mit jemandem geteilt. Mich bedrückte die Einsamkeit, die von ihm ausging, und zugleich glaubte ich in seinem Inneren einen unendlichen Abgrund zu erkennen, in den ich unweigerlich hinunterschauen musste. Die Morgendämmerung überraschte uns auf einer Bank am Hafen. Ich betrachtete diesen Unbekannten, mit dem ich stundenlang durch die Straßen gewandert war, und hatte das Gefühl, ihn seit eh und je zu kennen. Das sagte ich ihm auch. Er lachte, und in diesem Augenblick war mir mit der seltenen Gewissheit, die man höchstens zweimal im Leben verspürt, klar, dass ich den Rest meiner Tage an seiner Seite verbringen würde.
    In dieser Nacht erzählte mir Michail, er glaube, das Leben gestehe jedem von uns wenige Momente reinen Glücks zu. Manchmal sind es nur Tage oder Wochen. Manchmal Jahre. Alles hängt von unserem Schicksal ab. Die Erinnerung an diese Momente begleitet uns für immer und wird zu einem Land des Gedächtnisses, in das wir im ganzen weiteren Leben umsonst zurückzukehren versuchen. Für mich werden diese Augenblicke immer in dieser ersten Nacht begraben sein, als wir durch die Stadt spazierten.
    Die Reaktion von Sergei und Tatjana ließ nicht auf sich warten, vor allem die Sergeis. Er verbot mir, Michail noch einmal zu sehen oder mit ihm zu sprechen, und sagte, wenn ich ohne seine Erlaubnis dieses Theater verlasse, würde er mich umbringen. Zum ersten Mal in meinem Leben entdeckte ich, dass er mir nicht mehr Angst, sondern nur noch Verachtung einflößte. Um ihn noch mehr aufzubringen, sagte ich, Michail habe mir die Ehe angetragen und ich habe eingewilligt. Er rief mir in Erinnerung, dass er mein rechtmäßiger Vormund sei, und er werde nicht nur nicht in meine Ehe einwilligen, sondern wir brächen umgehend nach Lissabon auf. Durch eine Tänzerin der Truppe ließ ich Michail eine verzweifelte Nachricht zukommen. An diesem Abend kam er noch vor der Vorstellung mit zwei Anwälten ins Theater, um sich mit Sergei zu unterhalten. Er verkündete diesem, am selben Nachmittag habe er mit dem Impresario des Teatro Real einen Vertrag unterzeichnet, der ihn zu dessen neuem Besitzer mache. Von diesem Augenblick an

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