Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Marina.

Marina.

Titel: Marina. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
Vom Netzwerk:
Beklommenheit, wenn ich ihn Nacht für Nacht frühmorgens weggehen sah, überzeugt, er suche die Arme einer anderen Frau. Eines Nachts beschloss ich, ihm zu folgen und dieser Geheimniskrämerei ein Ende zu setzen.
    Seine Schritte führten mich zu den alten Werkstätten der Velo-Granell neben dem Born-Markt. Michail war allein. Ich musste mich durch ein winziges Fensterchen in einer Gasse zwängen. Das Innere der Fabrik erschien mir wie der Schauplatz eines Albtraums. Hunderte Füße, Hände, Arme, Beine, Glasaugen schwebten in den Hallen … Ersatzteile für eine gebrochene, klägliche Menschheit. Ich durchschritt diese Räume, bis ich zu einem großen, im Dunkeln liegenden Saal mit riesigen Glastanks kam, in denen undefinierbare Formen schwammen. In der Mitte des Saals schaute mich Michail von einem Stuhl im Halbdunkeln an, eine Zigarette rauchend.
    ›Du hättest mir nicht nachspüren sollen‹, sagte er ohne Zorn in der Stimme.
    Ich entgegnete, ich könne keinen Mann heiraten, von dem ich nur die eine Hälfte gesehen habe, von dem ich nur die Tage, nicht aber die Nächte kenne.
    ›Vielleicht gefällt dir nicht, was du herausfindest‹, deutete er an.
    Ich sagte, das Was oder Wie kümmere mich nicht. Es sei mir egal, was er tue oder ob die Gerüchte über ihn stimmten. Ich wolle nur vollständig zu seinem Leben gehören. Ohne Schatten. Ohne Geheimnisse. Er nickte, und mir war klar, dass das hieß, eine Schwelle zu überschreiten, hinter der es kein Zurück mehr gab. Als Michail das Licht im Saal anknipste, erwachte ich aus meinem Traum dieser Wochen. Ich befand mich in der Hölle.
    Die Formoltanks enthielten Leichen, die ein makabres Ballett tanzten. Auf einem Metalltisch lag eine vom Bauch bis zum Hals aufgeschnittene nackte Frau. Die Arme waren zum Kreuz ausgebreitet, und ich sah, dass die Ellbogen- und Handgelenke aus Holz und Metall bestanden. Durch den Hals führten Kanülen hinunter, und in den Extremitäten und Hüften steckten Bronzekabel. Die Haut war durchscheinend bläulich wie bei einem Fisch. Ich sah Michail wortlos zu der Leiche treten und sie traurig betrachten.
    ›Das ist es, was die Natur mit ihren Kindern anstellt. Es gibt keine Tücke im Herzen der Menschen, sondern nur den Kampf, um das Unvermeidliche zu überleben. Es gibt keinen schlimmeren Teufel als Mutter Natur … Meine Arbeit, mein ganzes Bemühen ist nichts weiter als der Versuch, das große Sakrileg der Schöpfung zu umgehen.‹
    Er ergriff eine Spritze und füllte sie mit einer smaragdfarbenen Flüssigkeit aus einem Fläschchen. Unsere Augen begegneten sich kurz, und dann versenkte Michail die Nadel im Schädel der Leiche und leerte die Spritze. Er zog sie wieder heraus und beobachtete einen Augenblick ruhig den leblosen Körper. Sekunden später spürte ich, wie mir das Blut in den Adern gefror. Die Wimpern des einen Auges zitterten. Ich hörte den Mechanismus der Holz- und Metallgelenke. Die Finger flatterten. Plötzlich richtete sich der Körper der Frau in einem heftigen Ruck auf. Ein tierisches, ohrenbetäubendes Geheul erfüllte den Raum. Von den geschwollenen schwarzen Lippen rannen weiße Schaumfäden. Sie löste sich von den ihre Haut durchbohrenden Kabeln und fiel zu Boden, eine kaputte Marionette. Sie heulte wie ein verwundeter Wolf. Dann hob sie das Gesicht und heftete die Augen auf mich. Ich war außerstande, den Blick von dem Schrecken abzuwenden, den ich darin erkannte. Von ihren Pupillen ging eine schauerliche animalische Kraft aus. Sie wollte leben.
    Ich war wie gelähmt. Nach wenigen Sekunden war der Körper wieder leblos. Michail, der allem unerschütterlich zugeschaut hatte, deckte die Frau mit einem Tuch zu.
    Er trat zu mir und ergriff meine zitternden Hände. Er schaute mich an, als wolle er in meinen Augen lesen, ob ich nach allem, was ich eben gesehen hatte, noch bei ihm bleiben konnte. Ich suchte nach Worten, um meine Angst auszudrücken, um ihm zu sagen, wie sehr ich mich geirrt hatte … Aber ich brachte nur ein Stammeln zustande, er möge mich von hier wegbringen. Das tat er. Wir gingen ins Hotel Colón zurück, wo er mich auf mein Zimmer begleitete, eine Tasse heiße Brühe für mich bestellte und mich zudeckte, während ich sie schlürfte.
    ›Die Frau, die du diese Nacht gesehen hast, ist vor sechs Wochen unter den Rädern einer Straßenbahn ums Leben gekommen. Sie ist auf die Straße gesprungen, um einen Jungen zu retten, der auf den Schienen spielte, und konnte den Aufprall nicht mehr vermeiden.

Weitere Kostenlose Bücher