Marina.
und nickte. Erst jetzt erlaubte uns Claret einzutreten. Wir gingen auf sie zu wie auf einen Geist, ebenso ängstlich wie fasziniert. Zwei Meter vor ihr blieben wir stehen. Wachsam verharrte Claret auf der Schwelle. Wieder wandte sich die Frau dem Spiegel zu und studierte ihre Erscheinung.
Auf einmal hob sie mit unbeschreiblicher Zartheit den Schleier. Die wenigen funktionierenden Glühbirnen enthüllten uns ihr Gesicht im Spiegel beziehungsweise das, was die Säure davon übriggelassen hatte. Nackter Knochen und welke Haut. Formlose Lippen, ein bloßer Schnitt in entstellten Gesichtszügen. Augen, die nie wieder würden weinen können. Einen unendlichen Moment lang ließ sie uns den Horror betrachten, den sonst der Schleier verbarg. Dann verhüllte sie ihr Gesicht und ihre Identität wieder mit derselben Zartheit, mit der sie sie offenbart hatte, und bat uns, Platz zu nehmen. Es verstrich ein langes Schweigen.
Ewa Irinowa streckte eine Hand zu Marinas Gesicht aus und liebkoste es, fuhr ihr über Wangen, Lippen, Hals. Mit zittrigen, sehnsuchtsvollen Fingern las sie ihre Schönheit und Vollkommenheit. Marina schluckte. Die Dame zog die Hand zurück, und ich konnte ihre lidlosen Augen hinter dem Schleier leuchten sehen. Erst jetzt begann sie zu sprechen und uns die Geschichte zu erzählen, die sie über dreißig Jahre lang für sich behalten hatte.
22
A ußer auf Fotos habe ich mein Land nie kennengelernt. Alles, was ich über Russland weiß, stammt aus Erzählungen, Klatsch und Erinnerungen anderer. Ich wurde auf einem Schiff auf dem Rhein geboren, in einem von Krieg und Schrecken zerstörten Europa. Jahre später habe ich erfahren, dass mich meine Mutter schon unter dem Herzen trug, als sie allein und krank auf der Flucht vor der Revolution die russisch-polnische Grenze überschritt. Sie starb bei der Geburt. Nie habe ich ihren Namen oder den meines Vaters erfahren. Für immer vergessen, wurde sie in einem anonymen Grab am Rheinufer beerdigt. Ein Komödiantenpaar aus St. Petersburg, das sich ebenfalls auf dem Schiff befand, Sergei Glasunow und seine Zwillingsschwester Tatjana, nahm sich meiner aus Mitleid an und weil ich, wie mir Sergei viele Jahre später sagte, mit zwei verschiedenfarbigen Augen geboren wurde, was ein Glückszeichen ist.
In Warschau schlossen wir uns mit Hilfe von Sergeis Listen und Machenschaften einer Zirkustruppe an, die unterwegs nach Wien war. Meine ersten Erinnerungen sind die an diese Leute und ihre Tiere. Ein Zirkuszelt, die Jongleure und ein taubstummer Fakir namens Wladimir, der Scherben aß, Feuer spie und mir immer wie von Zauberhand gefertigte Papiervögel schenkte. Schließlich wurde Sergei Verwalter der Truppe, und wir ließen uns in Wien nieder. Der Zirkus war mir Schule und Zuhause, in dem ich aufwuchs. Aber schon damals wussten wir, dass er zum Untergang verdammt war. Die wirkliche Welt wurde allmählich grotesker als die Pantomimen der Clowns und die Tanzbären. Bald würde uns niemand mehr brauchen. Das zwanzigste Jahrhundert war zum großen Zirkus der Geschichte geworden.
Als ich eben sieben oder acht war, sagte Sergei, es sei höchste Zeit, dass ich nun für meinen Lebensunterhalt aufkomme. So wurde ich ein Teil des Spektakels, zuerst als Maskottchen für Wladimirs Tricks, später mit einer eigenen Nummer, in der ich einem soeben eingeschlafenen Bären ein Wiegenlied sang. Dieser Auftritt, eigentlich nur als Zwischennummer gedacht, um den Trapezkünstlern Zeit für die Vorbereitung zu geben, war ein Erfolg. Das überraschte niemanden mehr als mich. Sergei beschloss, meinen Auftritt auszubauen. So sang ich schließlich auf einer lämpchengesäumten Plattform Verse für ausgehungerte, kranke Löwen. Die Tiere und das Publikum hörten mir hypnotisiert zu. In Wien wurde von dem Mädchen gesprochen, dessen Stimme die Tiere bändigte. Und die Leute bezahlten, um die Kleine zu sehen. Ich war neun.
Sergei wurde bald klar, dass ich den Zirkus nicht mehr brauchte. Das Mädchen mit den zweifarbigen Augen hatte seine Glücksverheißung erfüllt. Er formalisierte seine Funktion als mein Vormund und verkündete dem Rest der Truppe, wir würden uns nun selbständig machen, ein Zirkus sei kein geeigneter Ort für ein heranwachsendes kleines Mädchen. Als aufflog, dass jemand jahrelang einen Teil der Zirkuseinnahmen abgezweigt hatte, beschuldigten Sergei und Tatjana Wladimir, dem sie außerdem vorwarfen, er nehme sich widerrechtliche Freiheiten mit mir heraus. Wladimir wurde festgenommen
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