Marionetten
– oder die erste, je nachdem: Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen? Natürlich nur, wenn Sie darauf antworten möchten. Vielleicht stört es Sie ja nicht, daß Sie einen Terroristen decken oder daß Sie einem Anschlag auf die öffentliche Sicherheit Vorschub leisten.«
Annabel wandte den Kopf, um Ursulas Meinung zur Statthaftigkeit der Frage einzuholen, aber schon dieser Aufschub war zuviel für Herrn Werner:
»Ihre Chefin kann Ihnen da auch nicht weiterhelfen, Frau Richter! Ich will ganz offen zu Ihnen sein, und dann entscheiden Sie, wie Sie die Interessen Ihres Mandanten am besten wahren. Niemand übt Druck auf Sie aus. Dafür gibt es Zeugen. Was haben Sie und Issa Karpow gemacht, nachdem Sie am Samstag morgen um vier mit ihm das Haus von Frau Leyla Oktay verlassen haben?«
* * *
Sie wußten Bescheid.
Sie wußten einen Teil, aber nicht alles.
Sie kannten die Fassade, aber nicht, was sich dahinter verbarg. Das jedenfalls mußte sie annehmen. Wenn sie mehr als die Fassade kennen würden, dann würde Issa jetzt bereits im Flugzeug nach Sankt Petersburg sitzen und ihr aus dem Kabinenfenster zuwinken wie Magomed.
»Frau Richter. Ich frage Sie noch einmal. Was haben Sie und Issa Karpow gemacht, nachdem Sie das Haus der Oktays verlassen haben?«
»Ich habe ihn begleitet.«
»Zu Fuß?«
»Zu Fuß.«
»Um vier Uhr nachts? Machen Sie das mit allen Ihren Mandanten? Frühmorgens mit ihnen durch die Straßen flanieren? Ist das normales Geschäftsgebaren für eine attraktive junge Anwältin? Sollten Sie das Gefühl haben, die Antwort verstößt gegen Ihre Geheimhaltungspflicht, nehme ich die Frage selbstverständlich zurück. Sie behindern damit unsere Nachforschungen, aber egal. Wir kriegen ihn schon, auch wenn es dann vielleicht zu spät ist.«
»Unsere Gespräche hatten sich hingezogen, was bei Mandanten orientalischer oder asiatischer Herkunft nichts Ungewöhnliches ist«, erwiderte Annabel nach reiflicher Überlegung. »Es herrschten Spannungen bei den Oktays. Herr Karpow wollte ihre Gastfreundschaft nicht überstrapazieren. Er ist ein sehr rücksichtsvoller Mann. Sein prekärer Rechtsstatus beunruhigte sie zunehmend, und dessen war er sich bewußt. Hinzu kommt, daß sie dieser Tage für einen Urlaub in die Türkei fahren wollen.«
Sie richtete ihre Antworten nach wie vor an Ursula statt an Werner. Sie kleidete sie in knappe Sätze, mit einer kurzen Pause nach jedem, falls Ursula ihr Veto einlegen wollte. Ursula blinzelte durch halbgeschlossene Lider sphinxartig ins Leere, während der entspannte Herr Dinkelmann im Sessel neben dem ihren sein wohlwollendes Lächeln beibehielt.
»Beschreiben Sie bitte exakt Ihre Route, Frau Richter. Einschließlich der benutzten Verkehrsmittel. Ich muß Sie warnen, Ihre Situation ist nicht ganz ungefährlich, nicht nur wegen Issa Karpow. Wir sind keine Polizisten, aber wir haben unsere Verantwortung. Fahren Sie bitte fort.«
»Wir sind zu Fuß bis zum Eppendorfer Baum gegangen und dann weiter mit der U-Bahn.«
»Wohin? Erzählen Sie die Geschichte doch bitte im Ganzen, nicht bröckchenweise.«
»Mein Mandant war aufgewühlt, und in der U-Bahn bekam er Beklemmungen. Nach vier Stationen sind wir ins Taxi umgestiegen.«
»Sie sind ins Taxi umgestiegen. Bloß nicht zuviel auf einmal. Warum lassen Sie sich alles so aus der Nase ziehen, Frau Richter? In ein Taxi wohin?«
»Zuerst hatten wir kein Fahrtziel.«
»Ach nein?! Sie haben dem Taxifahrer eine Adresse gegeben: eine Kreuzung einen knappen Kilometer vom amerikanischen Konsulati Wie können Sie behaupten, Sie hatten kein Fahrtziel, wenn Sie dem Fahrer doch eins genannt haben?«
»Ganz einfach, Herr Werner. Wenn Sie sich für einen Augenblick in die Denkweise vieler unserer Mandanten hineinversetzen könnten, würde Ihnen klarwerden, daß solche Dinge etwas völlig Alltägliches sind.« Sie war in Hochform. Kein falsches Wort. Kein Schritt daneben. So brillant hätte sie sein sollen, wenn sie im Familienforum Rechtsverdrehen gespielt hatten! »Herr Karpow hatte ein Ziel im Sinn, aber aus Gründen, die er mir nicht näher erläutert hat, wollte er es mir nicht nennen. So eine Kreuzung führt in mehrere Richtungen. Sie kam zufällig auch mir sehr gelegen, weil ich ganz in der Nähe wohne.«
»Aber Sie sind mit dem Taxi nicht direkt zu Ihrer Wohnung gefahren! Warum nicht? Von da hätte er zu Fuß gehen können, und Sie wären heil und sicher zu Hause gewesen. Oder stoßen wir da auf ein weiteres unüberwindliches
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