Marionetten
guter Grund sein, Annabel.«
»Mein Mandant ist am Durchdrehen, Hugo. Er braucht sofort eine Klinik. Und mit sofort meine ich jetzt.«
»Wie spät ist es?«
Hugo, der einzige Arzt der Welt, der nie eine Uhr trug.
»Halb elf. In der Früh.«
»Ich ruf dich in der Mittagspause an. Halb eins. Auf deinem Handy. Oder schwächelt das immer noch?«
Sie hätte gern gesagt: »Nicht auf dem Handy«, aber statt dessen sagte sie: »Danke, Hugo, tausend Dank«. Es funktioniert wieder einwandfrei, schob sie nach.
Vor der Autowerkstatt machten sich zwei Frauen an einem verbeulten gelben VW-Bus zu schaffen. Sie verbot es sich, darüber nachzugrübeln. Herrn Werners VW-Busse waren unter Garantie picobello. Um die Zeit totzuschlagen, fuhr sie zu ihrem Lieblingsbioladen und kaufte die frischen Matjesheringe, die er so mochte, Zartbitterschokolade und ein Stück Emmentaler für ihren hoffentlich letzten Abend in der Wohnung. Und ihre Lieblingssorte stilles Wasser, die jetzt auch seine Lieblingssorte war.
Hugo rief Punkt halb eins an, wie nicht anders zu erwarten bei ihm, ob mit Armbanduhr oder ohne. Sie saß auf einer Parkbank, das Fahrrad an einen Laternenpfahl gelehnt. Er begann in aggressivem Ton, ein gutes Zeichen, wie sie hoffte.
»Und ich soll ihn in diese Klinik einweisen, oder wie denkst du dir das? Eine Überweisung ausstellen für jemanden, von dem ich nicht mal den Namen weiß? Vergiß es! Aber egal, du brauchst gar keine fingierte Überweisung«, fuhr er fort, bevor sie etwas erwidern konnte. »Die werden schon ihren hauseigenen Quacksalber haben, der ihm den Puls fühlt und tausend Euro pro Tag diagnostiziert. Ich habe zwei Möglichkeiten für dich. Beidemal Fünf-Sterne-Abzocke.«
Sein erster Vorschlag war Königswinter, was sie aus Gründen der Entfernung verwarf Der zweite war ideal: ein umgebauter Gutshof in der Nähe von Husum, nur zwei Zugstunden nördlich von Hamburg.
»Laß dir Dr. Fischer geben und klemm dir eine Wäscheklammer auf die Nase. Hier ist die Nummer. Und hör auf, dich zu bedanken. Ich hoffe, er ist es wert.«
»Ist er«, sagte sie und wählte die Nummer.
Dr. Fischer erfaßte die Situation augenblicklich.
Er verstand, daß Annabel für einen engen Freund anrief, und maßte sich nicht an, sich nach der näheren Natur dieser Freundschaft zu erkundigen.
Auch ihren Wunsch nach Diskretion am Telefon verstand er voll und ganz.
Er verstand, daß der namenlose Patient nur Russisch sprach, sah darin aber kein Problem, da etliche seiner erfahrensten Pflegekräfte aus dem Osten stammten, wie er es taktvoll ausdrückte.
Er verstand, daß der Patient zwar in keiner Weise gewalttätig war, aber doch traumatisiert durch eine Reihe unglücklicher Vorfälle, über die sich besser von Angesicht zu Angesicht sprechen ließ.
Er teilte ihre Vermutung, daß absolute Ruhe, reichliche Mahlzeiten und begleitete Spaziergänge ein probates Mittel sein könnten, die Heilung herbeizuführen. Wobei solche Entscheidungen selbstredend von einer eingehenden Anamnese abhingen.
Er verstand, daß Eile geboten war, und schlug ein unverbindliches Vorgespräch zwischen Patient, Betreuerin und Arzt vor.
Aber ja, morgen nachmittag passe ihm ausgezeichnet, ob vier Uhr genehm sei? Dann sagen wir doch, Punkt vier.
Nur ein paar Kleinigkeiten noch. Ob der Patient reisefähig sei oder ob er vielleicht Hilfe benötige? Ausgebildete Kräfte sowie ein geeignetes Transportmittel stünden gegen eine Zusatzgebühr zur Verfügung.
Und er hatte vollstes Verständnis dafür, daß Annabel sich gern eine ungefähre Vorstellung von den Tagessätzen der Klinik machen wollte, die auch ohne Extrazuschläge astronomisch waren. Doch Brue sei Dank: Ja, sagte sie, ihr kranker Freund sei in der glücklichen Lage, eine stattliche Vorauszahlung leisten zu können.
Bis morgen um vier also, Frau Richter, dann werden wir die Formalitäten hoffentlich rasch geregelt haben. Und wie lautet gleich wieder Ihr voller Name? Ihre Adresse? Und Ihre Tätigkeit, bitte? Und das hier ist doch Ihre reguläre Nummer, nicht wahr?
* * *
Sie hatte ihm das Schachspiel ihrer Großmutter mitgebracht, ein Kleinod. Sie wünschte, sie hätte schon eher an Schach gedacht. Für ihn war es ein Bewegungssport. Wenn er am Zug war, saß er reglos auf dem Platz, an dem er, so vermutete sie, in ihrer Abwesenheit den ganzen Tag saß: auf dem Sims des ziegelgemauerten Bogenfensters, die langen Beine unters Kinn gewinkelt und die spinnendünnen Philosophenhände um die Knie
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