Marionetten
ihm die am Sonntag morgen vom Bahnhofskiosk mitgebracht oder doch erst am Sonntag nachmittag? Sie wußte nur noch, wie sie zum Bahnhof geradelt war und ein kleines Vermögen für Ogonyok, Novi mir und Kommersant ausgegeben hatte, und danach für Blumen vom Blumenstand. Zuerst hatte sie an eine Begonie gedacht, um die er sich kümmern konnte, aber bei den Plänen, die sie mit ihm hatte, schienen Schnittblumen schlauer – nur welche? Symbolisierten Rosen für ihn Liebe? Das Risiko konnte sie nicht eingehen. Am Ende nahm sie Tulpen, die aber nicht in ihren Lenkerkasten paßten, weshalb sie sie den ganzen Weg bis zum Hafen in der hochgereckten Hand hielt wie ein Fackelläufer seine Fackel und darüber die Hälfte der Blütenblätter einbüßte.
Und als sie an entgegengesetzten Enden des Lofts gesessen und Tschaikowski gehört hatten und er plötzlich aufgesprungen war und den Kassettenrecorder ausgeschaltet hatte, um dann an seinen Platz auf der großen Kiste unter dem Bogenfenster zurückzukehren und ein tschetschenisches Heldengedicht über Berge, Ströme, Wälder und die unerwiderte Liebe eines edlen tschetschenischen Jägers zu deklamieren, von dem er ihr vereinzelte Passagen ins Russische übersetzte, wenn ihm danach war oder (so ihr Verdacht) weil er zufällig gerade ihren Sinn verstand, die Hand immerzu um sein goldenes Armband gekrampft – war das gestern abend gewesen oder am Samstag?
Und wann hatte er ihr diese Prügelszene geschildert, im zerstreuten Ton tastender Erinnerung: zwei Männer, die ihn von Raum zu Raum schleiften – »die Japaner« nannte er sie beharrlich, aber ob das eine akkurate Angabe ihrer Volkszugehörigkeit oder ihr Gefängnisname war und ob sie ihm die Schläge in Rußland oder der Türkei verabreicht hatten, blieb offen. Ihm ging es nur um die Räume: In diesem Raum haben sie meine Füße geschlagen, in diesem meinen Körper, in diesem haben sie mir die Elektroschocks verpaßt.
Wann immer er es ihr erzählt hatte, zu keinem Zeitpunkt war die Gefahr, sich in ihn zu verlieben, so groß gewesen wie in diesem Moment. Die Intimität seines Bekenntnisses war ihr als ein Akt unfaßlicher Großmut erschienen, und ihr ganzes Sein sprach darauf an: Wir schulden ihm alles, er demütigt sich vor mir, damit ich ihn erkennen und heilen kann – womit soll ich ihm das vergelten? Aber kaum wollte die Antwort sich abzeichnen, da war alles in ihr davor zurückgeschreckt, denn eine solche Antwort drohte das Versprechen auszuhebeln, das sie sich selbst gegeben hatte: sein Leben – und nicht seine Liebe – über das Gesetz zu stellen.
Und lange Zeiträume gab es, in denen er, wie ein Mensch, der viel allein gelebt hat, nur wenig oder auch gar nicht sprach. Aber seine Schweigephasen hatten nichts Bedrückendes. Sie empfand sie als eine Form der Wertschätzung, als einen weiteren Vertrauensbeweis. Und wenn sie endeten, wurde er so redselig, als wären sie alte Freunde, die nach langer Zeit wiedervereint sind, und sie stand ihm in nichts nach, erzählte ihm alles über ihre Schwester Heidi und die drei Kinder und über Hugo, den brillanten Arzt, auf den sie so stolz war – von ihm konnte Issa gar nicht genug hören –, sogar vom Krebs ihrer Mutter sprach sie.
Nur nicht von ihrem Vater, was immer der Grund sein mochte. Lag es an seiner früheren Diplomatenstellung in Moskau? Hemmte der lange Schatten von Oberst Karpow sie? Oder hatte es einfach damit zu tun, daß endlich nicht mehr ihr Vater über ihr Leben bestimmte, sondern sie selbst?
Dennoch, sie war Issas Anwältin, nicht nur seine Hüterin. Nicht nur einmal, ein dutzendmal hatte sie ihn gedrängt, ihn beschworen, ja ihm befohlen, in aller Form Anspruch auf sein Erbe zu erheben – vergebens. An das, was sie sich von diesem Schritt versprach, wagte sie kaum zu denken. Aber wenn sein Erbe so umfangreich war, wie Brue andeutete, wer konnte daran zweifeln, daß sich ihm Türen aller Art auf wundersame Weise öffnen würden? Auch hier bei Fluchthafen munkelte man von Fällen, in denen reiche Araber und Asiaten mit zentnerweise Dreck am Stecken extrem milde angefaßt worden waren, einfach aufgrund ihres satten deutschen Immobilienbesitzes und ihres satten deutschen Bankkontos.
Bring ihn erst in der Klinik unter, sagte sie sich. Wenn er dann ruhiger und bei Kräften ist, geh die Sache gezielt an. Warte ab, was Hugo ausrichtet.
Und Brue? Auf eine realistische und doch intuitive Weise glaubte sie ihn als das erkannt zu haben, was er war: ein einsamer
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