Marionetten
reicher Mann im Herbst seines Lebens, der nach der Würde in der Liebe suchte.
* * *
Ihr Telefon klingelte. Interner Anruf von Ursula.
»Unsere Montagsbesprechung verschiebt sich heute auf vierzehn Uhr, Annabel. Paßt dir das?«
»Kein Problem.«
Sehr wohl ein Problem. Ursulas förmlicher Ton enthielt eine Warnung. Sie hatte jemanden bei sich im Zimmer. Sie sprach für ein Publikum.
»Herr Werner ist hier bei mir.«
»Werner?«
»Vom Verfassungsschutz. Er würde dir gern ein paar Fragen zu einem deiner Klienten stellen.«
»Das kann er nicht. Ich bin Anwältin. Er darf mich nichts fragen, und ich darf ihm nicht antworten. Das müßte er doch eigentlich auch wissen.« Und als Ursula schwieg: »Um welchen Klienten geht es denn?«
Er steht gleich hinter ihr, dachte sie. Er hört jedes Wort mit.
»Herr Werner hat einen Herrn Dinkelmann bei sich, Annabel, ebenfalls vom Verfassungsschutz. Sie kommen in einer sehr ernsten Angelegenheit, sie müssen ganz dringend mit dir über einen verheerenden Anschlag auf die öffentliche Sicherheit« reden, den es ›zu vereiteln gilt‹.«
Sie zitiert. Sie setzt ihre Formulierungen in Anführungszeichen, extra für mich.
* * *
Herr Werner war ein fleischiger Endzwanziger mit kleinen wäßrigen Augen, aschblonden Augenbrauen und einem teigigglänzenden Teint. Als Annabel ins Zimmer kam, saß Ursula an ihrem Schreibtisch, und Herr Werner stand hinter ihr, genau wie sie es sich ausgemalt hatte. Den Kopf in den Nacken gelegt, die Lippen überlegen nach unten gebogen, unterzog er Annabel einer ausgedehnten visuellen Leibesvisitation: Gesicht, Busen, Hüften, Beine und wieder das Gesicht. Dann, als alles inspiziert war, machte er einen steifen Schritt auf sie zu, griff nach ihrer Hand und neigte sich mit einer Viertelverbeugung darüber.
»Frau Richter. Werner mein Name. Ich bin einer von denen, die dafür bezahlt werden, daß unsere Bundesbürger friedlich in ihren Betten schlummern können. Unser Gesetz sieht vor, daß meine Behörde Verpflichtungen hat, aber keine Exekutivgewalt. Wir sind Verwaltungsbeamte, keine Polizisten. Das wissen Sie natürlich, Sie sind ja Juristin. Darf ich vorstellen«, fuhr er fort, indem er ihre Hand freigab, »Herr Dinkelmann von unserer Koordinierungsabteilung.«
Doch Herr Dinkelmann von unserer Koordinierungsabteilung war zunächst unsichtbar. Er hatte in der Ecke hinter Ursulas Schreibtisch gesessen und mußte sich erst ins Bild schieben: Mitte vierzig, gedrungen, mit hellbraunem Haar und einer entschuldigenden Art, als wäre ihm nur allzu bewußt, daß seine besten Jahre hinter ihm lagen. Er trug ein verknittertes Leinensakko, ein bißchen wie ein Bibliothekar, und eine alte Krawatte mit Schottenkaros.
»Koordinierung ?« wiederholte Annabel mit einem Seitenblick zu Ursula hin. »Was koordinieren Sie denn, Herr Dinkelmann? Oder dürfen wir das nicht wissen?«
Ursulas Lächeln war bestenfalls lau, das von Herrn Dinkelmann dagegen so kurz wie herzerfrischend: ein Clownsgrinsen, das bis zu den Backenknochen hinaufreichte.
»Frau Richter, ohne mich würde die unkoordinierte Welt augenblicklich in ihre Einzelteile zerfallen«, sagte er vergnügt, wobei auch er ihre Hand eine Spur länger hielt, als es ihr nötig erschien.
* * *
Sie saßen zu viert um den niedrigen Couchtisch: Mutter Ursula mit den blauen Augen, dem kerzengeraden Rücken und dem vorzeitig ergrauten Haarknoten, umringt von ihrer Kinderschar. Ursulas Polstersessel waren so tief, daß sich niemand darin aufspielen konnte. Auf jedem Sessel prangte eins ihrer selbstgestickten Kissen. Beim Sticken kann ich mich so schön abreagieren, hatte sie Annabel einmal bei einem Seelenschwätzchen anvertraut. Auf dem Tisch Kaffee in einer enormen Warmhaltekanne, Milch, Zucker, Tassen und ein eindrucksvolles Aufgebot an Mineralwässern. Ursula ist ein Wasser-Gourmet wie ich. Und auf halber Strecke zwischen Kaffee und Wassertablett ein Hochglanzphoto von Issa, Vorderansicht und beide Seiten im Profil.
Aber nur Annabel sah auf das Photo, wie sie nach und nach merkte. Alle anderen sahen Annabel an: Werner mit einem penetranten Ausdruck profihafter Geriebenheit im Gesicht, Dinkelmann mit seinem Clownsgrinsen und Ursula mit der gewollten Gleichmütigkeit, zu der sie in Krisenmomenten Zuflucht nahm.
»Erkennst du diesen Mann, Annabel?« fragte Ursula. »Als Anwältin bist du nicht verpflichtet, den Herren irgendeine Auskunft zu erteilen, es sei denn, du bist selbst Gegenstand polizeilicher
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