Marlene Suson 1
Drang, sie loszuwerden, und dem unvernünftigen Wunsch, die Reise rück- gängig zu machen. Rachel hatte so unschuldig und verwundbar ausgesehen, als er sie in der Bibliothek zur Rede stellte. Fast wäre er wieder weich geworden, Idiot, der er war.
Wenn da nicht ihre Briefe an Denton wären, die sie eindeutig mit eigener Hand geschrieben hatte, hätte er sie nie der Untreue für fähig gehalten.
Was für eine exzellente Schauspielerin sie doch war. Wie die personifizierte Unschuld hatte sie ausgesehen, als sie ihn mit großen Augen ansah und behauptete, nicht zu wissen, wovon er sprach.
Dann hatte sie den Fehler gemacht, ihn mit dieser betörenden Stimme ,Liebling’ zu nennen. Das hatte seine Wut aufflammen lassen, als hätte man eine brennende Fackel in einen Strohhaufen gesteckt. In dem Augenblick war er nahe daran gewesen, etwas zu tun, das er später vielleicht bereut hätte. Er war so außer sich vor Wut, daß er es nicht einmal wagte, ihr die Briefe vorzulegen.
Ferris erschien im Türrahmen. „Sie haben nach mir geschickt?‚
Jerome unterdrückte den Wunsch, über Ferris herzufallen, weil er Rachel so nachlässig bewacht hatte, daß sie sich mit ihrem Lieb- haber treffen konnte. Doch er wußte, daß das im höchsten Maße unfair gewesen wäre. Ferris’ Aufgabe war es, sie heil und sicher zu den Orten zu bringen, die sie ihm angab. War sie erst einmal in dem jeweiligen Haus, konnte er nicht wissen, wen sie dort traf.
Jerome hielt ihm einen versiegelten Brief hin. „Der ist für mei- nen Bruder.‚
Ferris nahm den Brief und sagte stirnrunzelnd: „Ich verstehe nicht, weshalb Sie Ihre Gnaden nach Royal Elms schicken. Glau- ben Sie nicht, daß es dort gefährlicher für sie ist?‚
Zum Kuckuck, ja, dachte Jerome.
In London war zumindest kein Anschlag auf ihr Leben ver- übt worden. Wieder sah er im Geist die Gewehrkugel ins Wasser schlagen und die vergifteten Kätzchen.
Die Vorstellung, daß Rachel kalt und tot am Boden liegen könnte, ließ ihn schaudern. In diesem Augenblick wurde ihm klar, daß sie ihm trotz allem immer noch viel mehr bedeutete, als sie eigentlich sollte. Er verfluchte sich für seine Schwäche und Dummheit. Das hielt ihn freilich nicht davon ab, mit schroffer Stimme zu sagen: „Paß gut auf sie auf, Ferris. Ich will nicht, daß ihr etwas zustößt.‚
28. KAPITEL
Rachel kam in ihrem grünen Reitkleid die breite Marmortreppe herunter. Als sie gestern spät am Abend auf Royal Elms einge- troffen war, war sie so erschöpft gewesen, daß sie heute fast bis Mittag geschlafen hatte.
Deprimiert und verwirrt über Jeromes unerklärlichen Zorn hatte sie lustlos in ihrem Frühstück gestochert, das ihr aufs Zim- mer gebracht worden war. Wie recht sie doch mit ihrer Vorah- nung gehabt hatte, daß die Reise nach London ein fatales Ende nehmen würde.
Sie sagte sich immer wieder, daß es unter diesen Umständen besser war, auf Royal Elms zu sein. In London wäre sie nur gezwungen, an endlosen, langweiligen Gesellschaften teilzuneh- men, wobei sie auch noch vorgeben müßte, daß zwischen ihr und Jerome alles in Ordnung sei.
Rachel hatte noch nie zu den Menschen gehört, die im Gram versanken, wenn sie unglücklich waren. Und sie war entschlos- sen, es auch jetzt nicht zu tun. Es gab ein Mittel gegen Kummer und Niedergeschlagenheit: Arbeit. Hier auf Royal Elms gab es genug lohnende Aufgaben für sie. Als erstes würde sie sich um die Pächter kümmern. Es gab hier so viel für sie zu tun, daß sie gar keine Zeit haben würde, über ihre Ehe nachzugrübeln.
Sie warf einen Blick aus dem Fenster und entdeckte Ferris. Er ritt im Galopp auf Morgan zu, der gerade von den Stäl- len kam. Man merkte Ferris deutlich an, wie aufgeregt er war. Was immer er Morgan zu sagen hatte, es konnte nichts Gutes sein, denn er schlug sich dabei zornig mit der Faust in die of- fene Hand.
Als Rachel gestern abend auf Royal Elms eingetroffen war, hatte Morgan sie überrascht, aber so freundlich wie immer begrüßt. Als er dann jedoch Jeromes Brief gelesen hatte, war er plötzlich ganz verändert gewesen. Seine warme Freundlichkeit war einer kühlen Höflichkeit gewichen.
Als Rachel den Fuß der Treppe erreichte, kam Morgan in die große Halle.
„Ich will ausreiten‚, sagte sie zu ihm.
Er zog die Brauen zusammen. „Tut mir leid, Rachel, doch ich muß darauf bestehen, daß du im Haus bleibst.‚
„Was?‚ fragte sie ungläubig. „Ich will zu den Taggarts.‚
„Jetzt?‚ Er hob eine Braue und sah sie so
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