Marlene Suson 1
Postkutsche verlassen und für den Rest der Reise nach Wingate Hall eine schnelle Chaise mieten.
Rachel sah sich noch einmal in ihrem Schlafzimmer um. Sie fürchtete sich vor ihrer Rückkehr nach Wingate Hall und vor dem ungewissen Empfang, den ihre Tante ihr bereiten würde.
Tränen stiegen ihr in die Augen, als ihr bewußt wurde, daß sie Royal Elms für immer verließ. Sie war hier so glücklich gewesen. Sie liebte das Gut, die Menschen, die hier lebten und arbeiteten, und vor allem liebte sie den Gutsherrn. Doch sie konnte nicht bei einem Mann bleiben, der ihr so tief mißtraute.
So sehr sie der Gedanke, Royal Elms verlassen zu müssen, auch schmerzte, Jerome ließ ihr keine Wahl.
Jerome, Morgan und Ferris brauchten eine gute halbe Stunde, bis sie den Witwensitz erreichten. Es war ein solider, von
Bäumen umgebener Backsteinbau im entferntesten Winkel von Royal Elms.
„Unser Ahnherr konnte seine Mama offenbar gar nicht weit genug von sich weg unterbringen‚, bemerkte Morgan.
Hufabdrücke auf dem Weg, der zum Witwensitz führte, lie- ferten den Beweis, daß kürzlich jemand hiergewesen war. Im Augenblick schien jedoch niemand im Haus zu sein.
Die drei Männer saßen ab. Als sie zur Haustür gingen, wies Ferris auf zwei unterschiedliche Fußspuren, die vom Haus weg- führten. Sie mußten entstanden sein, als der Boden nach dem letzten Regen noch naß war.
Jeromes Gesicht wurde hart, als er sie näher betrachtete. Die eine Spur wies eindeutig auf einen Mann hin, wohingegen die andere von den kleineren Füßen einer Frau stammen mußte. „Wann hat es hier zum letztenmal geregnet?‚ fragte er kurz.
„Heute am frühen Morgen‚, antwortete Ferris.
„Dann haben sie das Haus letzte Nacht benutzt.‚
„Rachel kann unmöglich mit Denton hiergewesen sein‚, ver- sicherte Morgan nachdrücklich. „Ich bin absolut sicher, daß sie die ganze Nacht in ihrem Zimmer war.‚
„Wer sonst könnte es gewesen sein?‚ fragte Jerome.
„Rätselraten hilft uns nicht weiter‚, gab Morgan zurück. „Laß uns nachsehen, was wir drinnen finden.‚ Er klopfte, doch es rührte sich nichts. Schließlich stieß er die unverschlossene Tür auf.
Im Schlafzimmer fanden sie mehrere Hinweise auf die An- wesenheit einer Frau. Es waren zarte Wäschestücke aus Seide und Spitze. Der Gedanke, daß Denton den berückenden Körper seiner Frau in dieser Bekleidung gesehen hatte, die er ihr dann auch noch abgestreift haben dürfte, brachte Jerome fast zur Weißglut.
„Da im Augenblick niemand hier ist, könnten wir inzwischen eigentlich zu Abend essen. Anschließend kommen wir wieder und warten, bis deine ungebetenen Gäste auftauchen. Wir kön- nen im ,Crown Inn’ essen. Bis dahin ist es nur halb so weit wie zum Herrenhaus.‚
„Gute Idee‚, stimmte Jerome zu. „Ich bin heute auch so schon genug geritten.‚ Außerdem hatte er auch nicht die geringste Lust, mit seiner treulosen Frau am selben Tisch zu sitzen. Vor allem nicht in diesem hübschen kleinen Speisezimmer, in dem sie so viele glückliche Stunden miteinander verbracht hatten.
Also ritten sie zum „Crown Inn‚. Als sie das Gasthaus erreich- ten, fuhr gerade die Postkutsche ab. Jerome sah flüchtig durch eines der Fenster eine Frau, die offenbar in Trauer war. Sie war so tief verschleiert, daß man ihr Gesicht nicht erkennen konnte.
Jerome stocherte lustlos in seinem Essen. Rachels Verrat hatte ihm den Appetit gründlich verdorben. Mit einem Ohr hörte er, wie sich zwei Männer am Nebentisch unterhielten. „Möchte mal wissen, wer diese Frau in Schwarz war‚, sinnierte der eine. „Die in der Postkutsche.‚
Sein Gefährte, ein stämmiger Bursche, der auf dem linken Auge schielte, meinte: „So, wie die eingemummelt war, hätte es meine eigene Schwester sein können und ich hätte sie nicht erkannt.‚
Nach dem Essen genehmigten sich Morgan und Ferris ein Bier. Jerome trank Brandy. Er versuchte die Erinnerung an Rachels vernichteten Gesichtsausdruck zu vergessen, als er ihr sagte, daß er die Vaterschaft nicht anerkannte. Jetzt bedauerte er es, aber er war so verdammt wütend gewesen.
Niemand hatte ihn je so in Rage bringen können wie Rachel. Wieso eigentlich? Weil du nie im Leben jemanden so geliebt hast wie sie, weder deine Mutter noch Cleo, nicht einmal Morgan. Ja, bei Gott, so war es. So sehr er sich auch dagegen wehrte, es war die Wahrheit.
Als Rachel ihn vorhin so freudig begrüßt hatte, hätte er sie am liebsten auf der Stelle ins Bett gezerrt und
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